Peru hat keinen Puma mehr

Die Inka-Herrscher gaben ihrer Hauptstadt Cusco den Umriss eines Pumas. Davon ließen die Konquistadoren nichts übrig. Doch unter dem Stein lebt der Berglöwe weiter.

Von Inka Wichmann

Am frühen Morgen im Künstlerviertel San Blas: Rucksackreisende frühstücken Rühreier am Straßenrand, aus einem offenen Fenster dringt Musik der Gruppe „Coldplay“, und Touristen feilschen um Armbänder aus Regenwaldsamen. An der schmalen, holprigen Calle Tandapata verkauft ein Mann im Nadelstreifenanzug aus einem Wellblechgang heraus Krippenbilder. Ein Stückchen weiter zeigt eine Schottenrockträgerin Sakralfiguren mit überlangen Hälsen. Die formt sie aus Gips, Kartoffeln und Leim und lackiert sie anschließend in Himbeerrot und Moosgrün. Zu Dutzenden stehen die Madonnengestalten und Inkaprinzessinnen in der Abstellkammer neben Pappkartons. Aus einem der Nachbarhäuser hört man Gebell. Ein Terrier kläfft und kläfft auf einem morschen Balkon, dem ein Dutzend Holzstreben fehlen. Ein Raubtier kommt uns hier in Cusco, in der Andenstadt im Südosten von Peru, nicht in den Sinn. Das sollte es aber.

Der Puma verschluckte Lamas, Maiskolben und Hirten aus Gold. Er war keine gewöhnliche Wildkatze, sondern das Geschöpf des mächtigsten Inkaherrschers: Pachacútec Yupanqui hatte der Hauptstadt Cusco den Umriss eines Berglöwen aufgezwungen. Die Metropole des unersättlichen Regenten sollte wie ein unbändiges Raubtier aussehen. Mehrere zehntausend Bauleute arbeiteten an dieser Stadtskulptur. Sie pflasterten Straßen und schichteten Steinblöcke, schaufelten Erdwälle und walzten Edelmetalle. Und aus purem Gold gossen sie lebensgroße Tiere, Pflanzen und Figuren, die die Tempelanlagen bevölkerten. Eine Landzunge zwischen zwei Flüssen diente dem Puma als Schwanz, eine Verkehrsachse bildete sein Rückgrat. Mit jedem Palastbau bekam er neue Glieder. Die Festung wurde zum Kopf, der Hauptplatz zum Bauch, der Sonnentempel zum Geschlecht. Wer sich dem Steintier näherte, musste eine Last auf dem Rücken tragen, als Zeichen der Demut. Knapp sechshundert Jahre ist das her.

Die Einsamkeit von Sacsayhuamán.

Vor dem Pumakopf kauert eine Weberin auf einer Raseninsel. Gleich neben der Straße, die Reisebusse zur Festung Sacsayhuamán entlangzuckeln, wirkt sie rote und blaue Fäden. Mit Schnüren hat sie den Webbaum – eigentlich einen Holzstock – an einen Pfahl geknotet. Wie eine Hängematte sieht das aus. Das andere Ende hält sie im Schoß. Wenn sie sich zurücklehnt, spannt sich das Garn, wenn sie sich nach vorne beugt, erschlafft es. Dann wickelt die Frau mit dem breitkrempigen Hut wieder ein wenig Zwirn von der Spule. Das rotblaue Rechteck wächst und wächst. Es könnte ein Poncho werden. Wird es aber nicht. Kaum hat die Weberin ein Stückchen geknüpft, ribbelt sie das Werk wieder auf. Posen für Urlauberfotos sind einträglicher als Ponchos für Touristenmärkte. Wer zwischen getrockneten Lamaföten und gedörrtem Hühnerfleisch seine Erzeugnisse feilbieten will, muss ein Zehntel der Einnahmen als Standmiete abgeben. Also hockt die Weberin lieber neben den Mauern von Sacsayhuamán.

Auch wenn einige Dutzend Menschen umherstreifen, wirkt der Platz leer. Über zweieinhalb Hektar erstreckt sich die Anlage. Sonnenstrahlen haben das Gras versengt, Touristenfüße haben die verbliebenen Halme niedergetreten. Drei wuchtige Zickzackwälle ragen empor. Hinter ihnen sollten die Bewohner bei einem Angriff Zuflucht finden. Doch Sacsayhuamán war nicht allein eine Festung, sondern auch eine Festhalle. Hier huldigten Sänger und Trommler einem Mann, der Falkenfedern auf dem Kopf und Goldpflöcke im Ohr trug. Sie musizierten für den obersten Inka. Mauerreste aus dieser Zeit blieben erhalten. Zwischen die tonnenschweren Trachytblöcke passt keine Pfeilspitze: Ohne Mörtel sitzen sie aufeinander, jede Ecke fügt sich in eine Spalte, jede Kante schiebt sich in einen Riss. Menschen mit Schirmmützen stemmen sich gegen die Steinbrocken – die Füße rutschen auf der roten Erde, die Felsen rühren sich nicht. Anderen weißen, bärtigen, großen Männern konnten sie allerdings nicht trotzen.

Reise_Peru hat keinen Puma mehr_1_Inka Wichmann_web

Die Jagd auf den Puma begann im Winter. Drei spanische Schiffe stachen in Panama in See. An Bord unter anderem etwa siebzig Pferde, drei Hakenbüchsen, zwei Kanonen und fünfzehn Armbrüste. Hoch im Norden gingen ungefähr zweihundert Haudegen und Hasardeure an Land. Sie marschierten an der Küste entlang und durch eine Sandwüste; unbekannte Seuchen und indianische Pfeile ließen ihre Zahl schrumpfen. Ein kleiner Teil von ihnen zauderte und kehrte um. Die übrigen – es waren 168 Mann – hielten an der Route gen Süden fest. Sie wollten Gürtel und Armreifen, Kronen und Diademe, sie wollten Gold. Deshalb zogen die Eindringlinge in die Kordilleren, wo der Inkaherrscher ein Feldlager aufgeschlagen hatte. Sie tasteten sich über Hängebrücken aus Weidenzweigen und Lehmbatzen und stiegen Felstreppen hinauf. Dass fünfzigtausend Soldaten sie im Gebirge erwarteten, erfuhren sie von einem indianischen Gefangenen. Und doch schlug niemand den Rückweg ein.

Im Pumabauch gibt es Schwarzwälder-Kirschtorte mit Pfirsichstückchen. In den Seitenstraßen, die zum Hauptplatz Plaza de Armas führen, schwenken junge Kellner Speisekarten. Sie versprechen den Passanten Kondensmilchkuchen, Milchreis mit Nelkenaroma und Erdbeerpudding. Und eben auch eine Schwarzwälder-Kirschtorte. Die nordamerikanischen und europäischen Reisegruppen zögern nicht. Während sie sich in die Buffetschlange einreihen und nach den Rucolaschüsseln greifen, erklimmt ein junger Mann mit Ohrenklappenmütze und Poncho die Speisesaalbühne. Auf der Panflöte bläst er lauter Nummer-eins-Hits der Beatles, außerdem zwei, drei Frank-Sinatra-Klassiker. Noch vor dem Nachtisch verschwindet er. Er hat ein paar Häuser weiter einen zweiten Auftritt. Dort trägt er weder Ohrenklappenmütze noch Poncho, sondern offenes Haar und ein schwarzes T-Shirt. Die Panflöte hat er gegen eine Bassgitarre eingetauscht. Er spielt so laut, dass die holzgeschnitzten Balkone beben.

Kolonialbauten mit Arkadengängen säumen die Plaza de Armas. Wo früher ein Inkapalast stand, thront jetzt an der Nordseite eine Kathedrale. Der Bürgermeister habe Ende der neunziger Jahre alle alten Bäume im Stadtzentrum fällen lassen, damit nichts den Blick auf den Kirchenbau behindere, heißt es in einem Reiseführer. Kreisrunde Beete und trapezförmige Rasenflächen wurden dafür zwischen polierten Steinen angelegt. Die schimmern abends im Laternenlicht. Einen Hauptplatz stellten die Inkas sich anders vor. Erst lenkten sie die Wasserfluten, die über das Geviert flossen, in unterirdische Kanäle. Schließlich sollten Sonnenjungfrauen und Inkafürsten dort Wohnungen beziehen. Dann schleppten einige tausend Lastenträger von der Küste Sandsäcke herbei. Den Meeressand streuten sie gleichmäßig über den Ort der Klage und der Freude – so nannten sich die Platzhälften – und bliesen in Schneckenhörner. Zu Hause sollten sie erzählen, dass sie die schönste Stadt der Welt gesehen hätten.

Langsam trieben die spanischen Ritter den Puma in die Enge. Noch in der Heimat hatten sie gehört, wie Hernando Cortés das Aztekenreich unterworfen hatte: Er nahm den Herrscher in dessen eigenem Palast gefangen. Daran erinnerten sich die 168 Männer nun. Diesem Eroberer wollten sie es gleichtun. Sie schickten einen Boten zum Inkaherrscher ins Zeltlager. Die Spanier hätten von den eindrucksvollen Siegen des Regenten gehört und böten ihm ihre Dienste an, übermittelte der Gesandte. Der Inka lud die Fremden ein. Sie sollten sich in Cajamarca, einer nahe gelegenen Siedlung, einfinden. Dort wolle er sie treffen. Fünftausend Krieger begleiteten den Herrscher, doch sie kamen ohne Keulen, ohne Spieße, ohne Äxte. Die Spanier hingegen hatten Feldschlangen, Arkebusen und Lanzen dabei. Als der Regent eine dargebotene Bibel auf den Boden schleuderte, griffen die Eindringlinge an. Sie feuerten und schossen, stachen und hieben. Und rissen den Inka aus der goldenen Sänfte.

Zwei, drei Helfer werkeln am frühen Morgen im Sonnentempel Coricancha. Ein Hämmern ist zu hören, eine Heckenschere klackt, ein Rasenmäher röhrt. Im Innenhof fegt jemand den Boden und gießt die Geranien. Edelmetalle werden nicht poliert. Es sind auch keine mehr da. Die Inkas hatten gegenüber dem Osteingang eine runde Goldplatte angebracht, die mit Smaragden übersät war. In ihrer Mitte prangte ein Menschengesicht. Wenn die Sonne aufging, fielen ihre Strahlen durch das Tor direkt auf die Scheibe. Ein übernatürlicher Glanz habe den ganzen Raum erfüllt, berichten die Forscher. Die Goldfigur, die Goldkugeln, die Goldtapeten warfen das Licht zurück. Coricancha war allerdings mehr als eine Weihestätte, sie war auch ein Wohnsitz. Die Sonne hatte nicht nur Nachfahren (die Inkas), brauchte Nahrung (zum Beispiel Kokablätteropfer) und verfügte über Ländereien (allerhand Provinzen), die Sonne besaß auch Häuser im Zentrum der Stadt. Unter anderen den Tempel.

Das neue Leben von Coricancha.

Turnschuhe quietschen auf dem Parkett. An dunklen Sekretären, schweren Türen, Porträts in Goldrahmen schlurfen die Touristen vorbei. Coricancha ist nun ein Kloster. Wo die Inkas die Sterne, den Regenbogen und den Donner verehrten, hängen heute Gemälde, die die Geschichte des Dominikanerordens erzählen. Doch auch wenn die Mönche eine Kirche auf die Inkamauern setzten und einen Altar an den Platz der Sonnenscheibe rückten – sie konnten nicht alle Spuren tilgen. Unter der Gipsschicht kamen die alten Steine wieder zum Vorschein. Vor mehr als fünfzig Jahren ließ ein Erdbeben den Kreuzgang zusammenfallen und legte das ursprüngliche Mauerwerk frei. Wer in einer der früheren Tempelkammern auf einen kniehohen Steinblock steigt, kann durch schmale Fenster in den Raum nebenan schauen. Und in den daneben. Und in den darauffolgenden auch. So sehr schätzten die Inkas Symmetrie. In einer solchen Fensteröffnung soll am Tag der Wintersonnenwende die Venus erscheinen, der Glücksstern.

Nach den spanischen Hieben verlor der Puma den Kopf. Die Eroberer brachen die Ohrenspitzen heraus und trugen die Schnauze ab. Er war noch nicht einmal mehr eine gewöhnliche Wildkatze, sondern nur noch der Steinbruch eines maßlosen Konquistadors: Francisco Pizarro wollte, dass die Inkametropole ein spanisches Antlitz bekam. Die Beutejäger zerschlugen deshalb den Puma. Sie schleiften die Schutzmauern und verwüsteten die Speicher, schleppten Epidemien ein und lösten Edelsteine aus den Wänden. Und in einer Nacht verspielte ein Hauptmann beim Würfeln die Sonnenscheibe aus massivem Gold, die er aus der Kultstätte gestohlen hatte. Mit jedem Kirchenbau verlor der Puma einen Körperteil. Die Festung wurde zum Trümmerfeld, der Hauptplatz zum Kathedralenvorhof, der Sonnentempel zur Klosteranlage. „Wir gingen hinein, ohne uns um irgendwelche Weisungen zu kümmern“, schrieb einer der Plünderer anschließend ins Tagebuch. Ziemlich genau 474 Jahre liegt das zurück.

Reise_Peru hat keinen Puma mehr_2_Inka Wichmann_web

Wenn man von einer Anhöhe aus auf Cusco schaut, sieht man vor der Kordillerenkette ein rotes Ziegelmeer. Die meisten Häuser sind einstöckig, viele unverputzt. Je weiter die Straßenzüge von der Plaza de Armas entfernt liegen, desto brüchiger werden die Holzbalkone, desto öfter fehlen Schindeln, desto mehr Wellblechdächer kann man zählen. Zwischen den Bauten sticht allein die Kathedrale hervor; sie wirkt so gewaltig, man könnte den Sandsteinbau mit einer Festung verwechseln. Das Monument eines Raubtieres ist Cusco nicht mehr. Die Stadt ist heute das Monument eines Raubes.

Erschienen in F.A.Z. am 18. Mai 2007

Fotos: Inka Wichmann