Der Hammel auf dem Dach

Außen abweisend, innen prunkvoll, so sind die Häuser von Fès. Über Enge und Weite, Glanz und Schmutz, Pantoffeln und Helden in der ältesten Königsstadt Marokkos.

Von Inka Wichmann

Noch bevor das Flugzeug abhebt, tauscht der Mann im Nachbarsitz seine festen Schuhe gegen Pantoffeln. Sein Name ist Hicham Bahloul, sagt er, nachdem er es sich bequem gemacht hat. Hicham Bahloul – grauer Kapuzenpullover, dunkle Bartstoppeln und nun eben noch gelbe Pantoffeln – arbeitet als Schauspieler. Lauter Nebenrollen in Fernsehfilmen listet der Lebenslauf auf, den er ziemlich rasch aus seiner Umhängetasche zieht. In „Judas“ spielte er den ungläubigen Thomas, in „Paulus“ hat er Jakob den Älteren verkörpert. Nun aber sei Schluss mit den Bibelepen. Und auch mit den Nebenfiguren. Aus dem Handgepäck kramt Hicham Bahloul Beweisstücke für den Neuanfang hervor. Zeitungsausschnitte, Werbezettel und Festivalprogramme breitet er auf dem Klapptisch aus. Sie kündigen „Burned Hearts“ an, seinen neuen Kinofilm, den erhofften Durchbruch als Hauptdarsteller. Er könne das Werk gerne auf seinem Laptop zeigen, bietet er an, als das Anschnallzeichen erlischt. Der Flug von Marokko nach Deutschland dauert immerhin dreieinhalb Stunden. Genug Zeit für die Geschichte eines Mannes, der durch die Altstadt von Fès streift. Genau wie wir in den Tagen zuvor.

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Wer den Stadtplan von Fès auffaltet, wundert sich. In der einen Ecke drängen sich schilfgrüne Quadrate, in der anderen karamellbraune Kleckse. Die Quadrate stehen für die Ville Nouvelle, das Gebiet, das die französischen Kolonialisten anlegten. Die Kleckse stellen die Medina dar, die Altstadt, die ihren Ursprung im achten Jahrhundert hat. Sie setzt sich aus vier Teilen zusammen. Es gibt die Kasbah, das ist die Festung, das Fès El Djedid, also: Neu-Fès, die Mellah, das Judenviertel sowie das Fès El Bali, das ist der Kern. Dieser Kern umschließt zwei Viertel, die ihrerseits zwanzig Quartiere umfassen. Die wiederum besitzen allesamt eigene Grund- und Koranschulen, Bade- und Gotteshäuser – Letztere kennzeichnet der Faltplan durch Mondsicheln in Grün.

Durch die Medina winden sich Gassen, nein, Gässchen. Sie verengen sich so sehr, dass nur Maultiere die Gebrauchsgüter befördern dürfen, und sie verzweigen sich so oft, dass bloß Einheimische die Stadttore wiederfinden. Die Ortsfremden hingegen enden in einem Innenhof, einem Gemüsegarten oder bei einem Hochzeitsausstatter. Angesichts des Straßengewirrs muss jeder Kartenzeichner klein beigeben.

Dämmerlicht zur Mittagszeit

„Vorsicht“, zischt der Mann, der auf seinem Esel einen Videorekorder festgezurrt hat. Ein Junge schleppt einen Käfig mit einem Kanarienvogel vorbei, eine Ziege frisst Oliven aus einer Plastikwanne, ein Greis bewacht Hühner auf einer Bastmatte. Es ist Mittagszeit. Frauen mit Einkaufstaschen und Kinder mit Rucksäcken hasten durch die Straßen, und die Händler versuchen, ihre Waren loszuschlagen. Manche versetzen Schokoladenriegel aus dem Bauchladen, andere verhökern Französischbücher am Straßenstand. Ein paar Schritte weiter hingegen haben die Verkäufer feste Gelasse, vor denen sie Obst und Gemüse, Fleisch und Fisch auftürmen. Dort baumeln nackte Glühbirnen über den getrockneten Datteln und frischen Schnecken; ein Kaufmann hat sogar eine flackernde Neonröhre angeschraubt, die nun einen abgetrennten Kamelkopf beleuchtet. In der Altstadt herrscht in den Mittagsstunden Dämmerlicht. Manche Häuser scheinen sich so zu neigen, dass die Dächer fast aneinanderstoßen. Und auch durch diesen Spalt dringt kaum Sonne: Plastikplanen, Wellblech und Bastgeflecht halten sie fern.

Die Altstadt schottet sich ab. Zur Straße hin haben die Häuser kaum Fenster, nur ein paar vergitterte Öffnungen. Alle Fassaden ähneln sich, kein Gebäude sticht hervor. Hinter jeder der hohen und kahlen Mauern könnte sich ein Stadtpalast oder eine Bruchbude verstecken. Zum Beispiel das weiße Haus neben dem staubigen Platz: Vielleicht residiert dort ein Hotelbesitzer, der Hollywoodregisseure kennt, vielleicht haust da ein Habenichts, der seinen Fernseher verramschen muss. Die Fassade gibt es nicht preis. Was sich hinter den Mauern verbirgt, können Passanten nur erraten. Hinweise geben allenfalls die Geräusche, die durch die Holzläden dringen. Das französische Kinderlied „Frère Jacques“ – vierstimmig gesungen – deutet auf eine Grundschule hin. Die Gasse ist so schmal, dass die Schultern an den Mauern entlangschrappen. Ein Mann mit Haarkranz und ohne Vorderzähne tritt aus der Tür und winkt den Fremden. Er wolle sein Haus versteigern – ob jemand Interesse an einer Besichtigung habe? Durchaus. „Herein, herein“, sagt er und schiebt die morsche Holztür auf.

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Die Boeing 737 erreicht ihre Flughöhe. Eine Stewardess erkennt Hicham Bahloul aus einem Fernsehspiel wieder; ein Passagier in Reihe zwölf vermutet, den Schauspieler schon einmal auf der Kinoleinwand gesehen zu haben, wahrscheinlich in der Rolle des Terroristen in Steven Spielbergs vorletztem Film. Nein, das war nicht Hicham Bahloul, sein Durchbruch kommt ja erst noch. Er klappt seinen Laptop auf. Doch die Festplatte surrt nicht, das Startsignal bleibt aus – der Akku ist leer. Wo er wohl das Ladekabel verstaut hat? Zumindest nicht im Handgepäck. Die Stewardess verspricht Hilfe: Sie will für Ersatz sorgen. Derweil erzählt Hicham Bahloul das Drehbuch nach: Ein Architekt – „Den spiele ich!“ – kehrt aus Paris in seine Heimatstadt Fès zurück. Zehn Jahre hat er die Stadt gemieden, aus Verbitterung. Nun will er seinen sterbenden Onkel besuchen, einen hartherzigen Schmied, der ihn als Kind verprügelt und verhöhnt hat. Der Architekt hastet durch die Medina, vorbei an Kesselflickern und Korbflechtern. Auf den ersten Blick scheint sich nichts verändert zu haben. Es fühlt sich an, als habe er eine Zeitreise unternommen. Ein bisschen so wie wir.

Der Mann mit dem Haarkranz stellt sich als Ahmed Lahmani vor. Hinter seiner morschen Haustür endet die Enge und beginnt die Weite: Ein Innenhof tut sich auf. Der Innenhof hat ein Glasdach und einen Holzbalkon – er ist der Hausmittelpunkt, von dem Schlafkammern und eine Kochnische abzweigen. Sicher, Risse durchziehen das Glasdach, Farbe platzt von den Fensterläden, Stücke brechen aus dem Handlauf; womöglich lehnen sich Gäste nicht mehr allzu vertrauensvoll an das schmiedeeiserne Geländer. Doch der Raum ist hoch und weit, wirkt großzügig und lichtdurchflutet. Dort könnten auch Samtsofas mit Brokatkissen und Mosaikplatten mit Goldtabletts stehen. Neunzigtausend Euro finde er angemessen, sagt Ahmed Lahmani. Nur halb so viel biete ihm allerdings der Interessent, eine Bankfiliale aus der Nachbarschaft. Er zuckt mit den Schultern. Vielleicht wird er das Angebot dennoch annehmen, er will endlich in einen Neubau ziehen. Auch die gute Lage in der Medina – wenige Meter entfernt verkauft ein Bäcker Marzipankekse mit kandierten Früchten und gebrannten Mandeln – kann ihn von diesem Vorhaben nicht abhalten.

Die Altstadt verlassen? Das käme Azzedine Tazi wahrscheinlich nicht in den Sinn. In seinem Haus betreibt er ein Hotel, durch das er Besucher routiniert lotst. Es geht treppauf und treppab, durch immer neue Flure und Schleichwege, über hellblaue und rotweiße Mosaikböden, vorbei an bemalten Türen und vergitterten Fenstern. Geschirrklappern dringt aus der Großküche. Irgendwo wird gebohrt und gehämmert, es riecht nach Zitronenaroma und Rosenpotpourri – Azzedine Tazi kümmert sich um sein Haus. Er zeigt mannshohe Teppichstapel, er tischt honigsüßes Sesamgebäck auf, er zieht das ledergebundene Gästebuch hervor, in dem Berühmtheiten schwungvoll unterschrieben haben. Und doch gibt es einen noch größeren Schatz, mit dem er auftrumpfen kann: das Dach. Die Terrasse hat eine hüfthohe Brüstung, auf der sich ein Glas Minztee abstellen lässt. Von dort aus offenbart sich eine andere Stadt. In den Gassen ist Fès eng und dunkel, auf dem Dach weit und hell. In den Gassen ertönt ein ständiges Stimmengewirr, auf dem Dach höchstens der Ruf des Muezzin. Auf dem Dach ist man unter sich.

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Zwei Dächer weiter drängt sich eine Familie um einen Hammel. Das sagt zumindest der Mann, der durch ein Teleobjektiv hinüber späht. Mit bloßem Auge ist nur zu erkennen, dass die Menschen einen Halbkreis bilden. Eine Frau hält einen Säugling, ein Mann eine Kamera: Sie feiern die Geburt eines Kindes, behauptet der Mann mit dem Teleobjektiv. Deshalb werde geklatscht, gesungen – und geschlachtet. Ein Hammel zum Festtag, dicht neben den umgewehten Plastikstühle und dem Holztisch mit drei Beinen.

Was es nicht alles zu entdecken gibt auf den Dächern. Auf vielen flattert Wäsche, auf allen ringeln sich Kabel. Sie führen zu den Parabolantennen, von denen auf jeder Terrasse mindestens zwei, eher drei aufragen. Auf wenigen Dächern schimmern grüne Ziegel; sie gehören Moscheen, etwa der Kairouine oder der El Andalous. Mit Hilfe ihrer Minarette lässt sich herausfinden, in welchem der karamellbraunen Kleckse auf dem Stadtplan man gerade angelangt ist.

Einen Tag später im Flugzeug. Eine Durchsage aus dem Cockpit unterbricht Hicham Bahlouls Redefluss: Der Pilot warnt vor Turbulenzen. Hicham Bahloul lässt den Anschnallgurt einrasten und nimmt den Erzählfaden wieder auf: In Fès stößt der Architekt auf einen Freund aus Kindertagen und auf eine neue Liebe, trifft einen greisen Hochstapler und einen jugendlichen Drogensüchtigen. Der Film will Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Moderne aufeinanderprallen lassen. Deshalb spielt die Handlung auch in Fès: Die Medina ist ein Museum, das vor Leben birst. Der Regisseur hat das Treiben in Schwarzweiß festgehalten; so groß war seine Furcht, dass die Bilder andernfalls die Geschichte verdrängen könnten. Nur der Schmied darf in Farbe auf den Amboss hauen. Würde man ja zu gerne selbst einmal sehen. Doch die Stewardess schüttelt den Kopf: Sie kann kein Ladekabel auftreiben. So muss Hicham Bahloul die Geschichte weiterspinnen, bis wieder eine Nachricht aus dem Cockpit dringt: Deutschland rückt näher. Und rasch tauscht der Mann im Nachbarsitz seine gelben Pantoffeln gegen feste Schuhe, bevor das Flugzeug aufsetzt.

 

Erschienen in F.A.Z. am 7. Mai 2009

Fotos: Inka Wichmann