Jeder kann tanzen

Er hat mit Jugendlichen Peru, Äthiopien und Kroatien getanzt – nun kommt der Choreograph Royston Maldoom nach Dresden. Seine Botschaft: „Du kannst dein Leben jederzeit ändern. Auch in einer Tanzklasse.“

Von Inka Wichmann

Es begann in einem Kinosessel. Freunde hatten Royston Maldoom in einen Tanzfilm geschleppt. Erst hatte er sich gesträubt: Mit Kunst, mit Ballett gar, wusste er nichts anzufangen. Das änderte sich, sobald der Projektor ratterte: Über die Leinwand flog Rudolf Nurejew, der große Ballettstar. Nurejew war gerade aus der Sowjetunion geflohen; nach einem Gastspiel in Paris war er am Flughafen über eine Absperrung gehechtet und so seinen Aufpassern entwischt. Nun tanzte er mit Margot Fonteyn. Dieser Anblick traf Maldoom ins Mark. „Als die Lichter am Ende des Films wieder angingen, weinte ich“, schreibt er in seiner Autobiographie, die „Tanz um dein Leben“ heißt. Zwei Tage nach dem Kinobesuch meldete er sich in einer Tanzschule in Cambridge an. Das war kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag. Wenige Monate zuvor hatte er noch als Landwirt gearbeitet.

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„You can change your life in a dance class“ – mit diesem Satz ist Royston Maldoom in Deutschland berühmt geworden. Dass sie ihr Leben in einer Tanzstunde ändern könnten, rief der Choreograph vor sieben Jahren rund 250 Berliner Jugendlichen zu. Mit ihnen brachte er Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ auf die Bühne. Er zeigte den Schülern, wie man springt und stürzt, wie man sich streckt und krümmt, im Grunde, wie man Stolz gewinnt und Furcht abschüttelt. Ob er lobte oder tadelte – ein Kamerateam beobachtete ihn dabei. Das Ergebnis: „Rhythm Is It!“, die viel gepriesene Dokumentation. Maldooms Satz wurde erst zum Untertitel des Films, dann zur Schlagzeile der Kritiken, schließlich zum Leitfaden der Tanzpädagogen. Eigentlich möchte er den Spruch aber am liebsten ergänzen: „Du kannst dein Leben jederzeit ändern. Auch in einer Tanzklasse.“

Tanzen lernen zwischen Achtjährigen

Niemand ändert sein Leben im Handumdrehen. Damit er seine ersten Ballettstunden bezahlen konnte, zapfte Royston Maldoom Bier im Pub, grillte Hamburger im Café und jätete Unkraut im Garten seiner Lehrerin. Dann tanzte er. Zwischen lauter Mädchen, die acht Jahre alt waren. Nicht alle Freunde glaubten an ihn. Doch er biss die Zähne zusammen. Seither weiß er: „Wer vorankommen möchte, braucht Disziplin.“ Das gilt für das Leben im Allgemeinen und für den Tanz im Besonderen. Denn mit dem Tanz geht der Schmerz des Trainierens, Wiederholens und Scheiterns einher, wie er sagt. Er zog nach London, wo er Stipendien ergatterte, Engagements bekam. Ihm war allerdings klar: Sein Körperbau verhinderte eine wirkliche Tänzerkarriere – er war weniger groß, weniger schmal als seine Kollegen. Als sein Freund ihn fragte, was er tatsächlich machen wolle, antwortete er deshalb: „Choreograph sein.“

Bis heute übt Royston Maldoom Choreographien ein. Mit Laien. Er tanzt zum Beispiel mit Straßenkindern, Kriegsflüchtlingen und Schulverweigerern, stößt Projekte an in Peru, Äthiopien und Kroatien. Angefangen hat sein Engagement jedoch Ende der siebziger Jahre in Schottland, wo er sich der Liebe wegen niedergelassen hatte. Dort suchte eine Amateurgruppe kurzfristig einen Vertretungslehrer; die Kursleiterin war schwanger geworden. Die Spiegelsäle der Profis gegen die Gemeinderäume der Laien eintauschen? Maldoom hatte mit Weltklassetänzern gearbeitet. Er zögerte kurz. Und nahm das Angebot an. Er konnte den Menschen etwas Grundlegendes beibringen: Im Tanzkurs entdeckten sie ihren Körper als Ausdrucksmittel. Das formte ihr Selbstbild, ließ ihr Selbstbewusstsein wachsen. Und bescherte ihnen Freude.

Zugegeben: Manche Teilnehmer stemmen sich gegen den Tanz. Einige brechen das Projekt ab, andere lärmen, schimpfen oder kichern. Royston Maldoom setzt auf das Gespräch. Er erläutert zum Beispiel, warum niemand auf der Tanzfläche eine Flasche auspacken, ein Handy zücken oder mit Strümpfen rennen darf. Über die Flasche könnte jemand stolpern, das Handy würde ihn übertönen, und mit Strümpfen muss man einfach ausrutschen. Die Tänzer wissen dann, dass Maldoom nicht aus Willkür auf die Regeln pocht. Dass sie still sein müssen, leuchtet den meisten ebenfalls ein. Zum einen sollen sie mit ihren Körpern, nicht mit ihren Stimmen sprechen. Zum anderen dürfen sie auf der Bühne vor Publikum ja auch nicht miteinander plaudern. Vierzig Minuten lang müssen sie sich dann beherrschen. Also üben sie vorher die Stille. Solange, bis kein Tänzer mehr losprustet.

Royston Maldooms wertvollster Trick jedoch ist: Er traut den Tänzern etwas zu. Indem er sie fordert, stachelt er sie an. Dass jemand an sie glaubt, ist für einige eine neue Erfahrung. Gerade Schüler werden oft unterschätzt. Für Jugendliche sei klassische Musik zu schwierig, heißt es oft. Malroom sieht das anders. „Wenn wir die Werke verstehen können, können sie es auch. Wir müssen die Musik nur mit ihnen teilen“, findet er. Aufgegeben hat er noch nie: „Es gibt bei jedem Projekt einen Punkt, an dem ich morgens denke: ‘Nein, ich gehe nicht wieder hin.’ Aber schließlich mache ich mich doch auf den Weg.“ Maldoom hat in den vergangenen Jahrzehnten Tausende unterrichtet. Viele von ihnen melden sich später. Sie schreiben ihm, rufen ihn an, treffen ihn, wenn er in ihre Stadt zurückkehrt. Dann erfährt er: Manche von ihnen haben ihr Leben geändert.

Erschienen in F.A.Z. 2010

Foto: S. Fischer Verlag GmbH