Artig tappt der Elefant dem Zeigefinger hinterher

Die Garden Route entlang der Küste Südafrikas gilt als Paradies. Sie ist ein Spielplatz für wohlhabende Urlauber. Mit der Wirklichkeit des Landes hat sie nicht viel zu tun.

Von Inka Wichmann

Der Sicherheitsmann mit dem Funkgerät löst ein Kreuzworträtsel. Es ist Montagmorgen, ungefähr eine Stunde nach Sonnenaufgang, und er hat nichts zu tun. Ein Kofferträger schleppt eine Reisetasche aus dem Hotel, eine Joggerin im Trainingsanzug keucht vorbei, ein Yachtbesitzer trägt einen Welpen an Bord. Sonst regt sich nichts am Hafen von Knysna. Bloß das Surren der Kühlmaschine im Eisbüdchen ist zu hören. Auf einem Holzschild steht, dass Kalkutta 8940 Kilometer entfernt ist, Melbourne 9735 und Singapur 8782. Knysna ist ziemlich weit weg von überall. Auch von dem Südafrika, von dem wir gelesen haben. Hier verkaufen die Geschäfte keine Steve-Biko-T-Shirts, sondern rücken Billabong-Hemden in die Schaufenster.

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Knysna ist das touristische Zentrum der Garden Route, die Mossel Bay und Storms River Mouth miteinander verknüpft. Die Städtchen an der zweihundert Kilometer langen Strecke heißen Garden of Eden oder Wilderness. Das ist kein Zufall. Die Garden Route gilt als Paradies. Sie sei ein „playing field“, sagen viele – für wohlhabende Fremde, die mit Dampfeisenbahnen das Westkap entlangzuckeln, mit Schaufelradschiffen durch Lagunen steuern, mit Gleitschirmen das Küstengebirge hinabsegeln, ein Spielplatz auf dem Land, im Wasser und in der Luft. Die Backsteindörfer, die von Aids-Waisen bewohnt werden, die Stadtviertel, durch die Polizisten nur mit dem Gewehr im Anschlag fahren, die Straßenecken, an denen Kinder mit Klebstoffbeuteln kauern – das alles begegnet den meisten Garden-Route-Gästen höchstens in der Zeitung.

 

Auf dem Rücken einer Rebellin

 

Hoffentlich findet Mopane es nicht zu heiß. Wenn Mopane es zu heiß findet, stapft sie zur nächsten Matschkuhle. Und weil sie der älteste Elefant der kleinen Herde ist, trotten die übrigen Tiere ihr vertrauensvoll hinterher, gleichmäßig und unaufhaltsam, Rüssel an Schwanz. Erst Marula, dann Jabu und danach Tumelo. Wir sitzen auf Tumelo. Allerdings nicht allein, sondern an Eugene geklammert, der von Zeit zu Zeit Befehle ins ausgefranste Elefantenohr wispert. Schreien würde der Mann in Gummistiefeln nie. Denn sobald ein Elefant sich erschreckt, rennt er davon. Im Zweifel Richtung Wasserloch, zum Schlammbad, mutmaßen wir und sind auch ziemlich still. Nur eine Frage flüstern wir: Warum fehlt ein suppentellergroßes Stück von Tumelos rechtem Ohr? Die Antwort des Tierpflegers: Tumelo ist eine junge Rebellin.

Sie hat das Ohrläppchen bei ihrer Flucht aus dem Kruger-Nationalpark eingebüßt. Es hatte sich in dem Zaun verfangen, den Tumelo eines Tages niedertrampelte. Mit blutendem Ohr und zwei anderen Elefanten stürmte sie durch die Lücke zu einer Nachbarplantage und riss dort alle Obstbäume um. In den Park zurückkehren durften die drei Ausbrecher nicht. Sie brauchten eine neue Heimstatt. Ungefähr zwanzig Kilometer von Plettenberg Bay entfernt haben sie sie gefunden, in einem Elefantenasyl. Da versorgt ein Tierarzt Aufrührerwunden, da steht das Gatter zum nächsten Waldstück offen, da streut Eugene Futterpellets in die Rüssel, zur Belohnung, wenn die Tiere der Morastversuchung nicht nachgeben oder zumindest vorher die Reiter auf den Boden springen lassen.

Niemand kann einfach so zu einem Elefantenritt aufbrechen. Bevor jemand auf Tumelo klettern darf, muss er Bekanntschaft schließen, nämlich vor das Tier treten, ihm den Rücken zuwenden und die Finger nach hinten strecken. An der gespreizten Hand findet der Elefantenrüssel Halt. Jetzt langsam einen Fuß vor den anderen setzen. Tumelo tappt hinterher. Noch einen Schritt wagen. Rüssel an Zeigefinger geht es am Wiesenrand vorbei und den Waldpfad entlang, bis zur kleinen Lichtung. Wer die Wegstrecke zurückgelegt hat, darf Tumelo hinter dem vernarbten Ohr streicheln. Dort ist die Elefantenhaut dünn und weich; Borsten wachsen an den Ohrmuscheln, auf dem Kinn, im Nacken. Unter langen, struppigen Wimpern beobachtet Tumelo, wie Eugene etwas aus der Hosentasche zieht: Futterpellets.

 

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An der Tankstelle stecken wir auf dem Rückweg eine Tageszeitung ein. Als Aufmacher druckt die „Cape Times“ einen Artikel zur aktuellen Aids-Statistik. Fünfeinhalb Millionen Südafrikaner seien HIV-positiv, meldet das Blatt. Das bedeutet, dass sich ungefähr jeder achte mit dem Virus angesteckt hat. Bislang ist der ärmste Bevölkerungsanteil am stärksten betroffen; dreiundzwanzig Prozent der Mittellosen sind infiziert. Doch in den vergangenen Jahren hat die Ansteckungsrate innerhalb der schwarzen Mittel- und Oberschicht ebenfalls erheblich zugenommen, sie ist um ein Drittel gestiegen. Die Zeitung folgert: Damit klettere die Krankheit die soziale Leiter hinauf und erreiche die Ausgebildeten und Berufstätigen, genau die Menschen, von denen das Land sich einen wirtschaftlichen Aufschwung verspreche.

Die Rotorblätter drehen sich schon am Strand. Das müssen sie auch, sonst würde das Ausflugsschiff auf den Meeresgrund sinken, wenn der Traktor es mit Hilfe einer Eisenstange ins Wasser schubst. Dass alle ihre Fotoapparate unter den Hartschalensitzen verstauen und sich an den Metallgriffen festhalten sollen, kann Bootsführer Steve gerade noch brüllen. Rumps. Die „Dolphin“ pflügt durch die Küstenwellen vor Plettenberg Bay. Ein Touristenhut fliegt davon, der sechsstöckige Hotelbau am Ufer wird kleiner, Gischt spritzt gegen Sonnenbrillengläser. Nur Steve in den halboffenen Gummischuhen steht noch hinter dem Steuer und verlangsamt nach acht, neun Kilometern die Fahrt. Vor dem türkisfarbenen Bug liegt eine schroffe Halbinsel, die mit dunklen Punkten übersät ist.

 

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Das schönste Büro der Welt

 

Die dunklen Punkte erklimmen Felswände, schlafen auf Steinvorsprüngen und prusten. Wir dümpeln in Höhe eines Naturschutzgebietes, und seine Bewohnerschaft ist eine Robbenkolonie. Alle gucken auf das Pelzdurcheinander und pressen sich an die Reling, an der eine Salzkruste klebt. Robben sind gesellig; mehrere tausend von ihnen drängen sich an dem Ruheplatz zusammen. Ein Jaulen, ein Röcheln, ein Wimmern ist zu hören. Die Robben sonnen und baden, kriechen und tauchen. Bis zu sieben Minuten können sie auf der Suche nach Sardellen unter Wasser bleiben, sagt Steve. So lange können wir nicht warten. Das Funkgerät rauscht: Die „Explorer“ hat gerade ein Stück weiter östlich ein Delphingrüppchen entdeckt. Das wollen wir auch sehen.

Schwarzgraue Flossen ragen aus dem Wasser. Ungefähr ein Dutzend Delphine schwimmt steuerbord, nicht mehr als dreißig Meter entfernt. Regelmäßig verschwinden sie in den Fluten und schießen dann wieder empor. Es riecht nach Benzin; vor und hinter uns schippern zwei andere Ausflugsboote. Delphine mögen Schiffe, heißt es. Sie reiten auf deren Wellen. Irgendwann springt einer von ihnen aus dem Wasser in die Höhe, und Steve ruft gegen Motorentuckern, Windrauschen und Möwenkreischen an, dass er das schönste Büro der Welt habe. Seine Mitfahrer nicken mit wehendem Haar und lächeln mit salzigen Lippen. Kurz vor der Landung erhöht der Mann mit dem schönsten Büro der Welt noch einmal die Geschwindigkeit. Rumps. Zurück am Strand.

Heute auf den Titelblättern im Gemischtwarenladen: David Rattrays Beerdigung. Eine sechsköpfige Gang hat den Historiker auf seiner Farm vor den Augen seiner Frau erschossen. Der Gewalt endlich ein Ende zu setzen, fordert die Regionalausgabe von „The Herald“ deshalb in dicken Lettern. Der Appell ist an die Regierung gerichtet. Die reagiere auf Mordanschläge und bewaffnete Überfälle gleichgültig, wird ein Bekannter des Opfers zitiert. Nur wenige Tage vor Rattrays Tod hatte Präsident Thabo Mbeki Verbrechen als ein Wahrnehmungsproblem eingestuft, hatte ANC-Vizepräsident Jacob Zuma den Medien Effekthascherei vorgeworfen. Beiden Wortmeldungen steht eine Kriminalitätsstatistik gegenüber, die die südafrikanische Mordrate gleich hinter der Kolumbiens verortet: 18 500 Menschen wurden im vorigen Jahr Opfer eines Gewaltverbrechens.

Unter uns verstecken sich Paviane, Stachelschweine und Meerkatzen im Gehölz, über uns flattern Spechte, Rotkehlchen und Neuntöter. Das sagt zumindest Wynand. Wir sehen sie nicht. Wir sehen bloß das Seil. Es ist aus Stahl, recht lang und eher dünn. An ihm soll das Reisegrüppchen von Holzpodest zu Holzpodest gleiten, von Yellowwood-Baum zu Yellowwood-Baum schweben. Zehn Stationen in dreißig Metern Höhe. „Canopy Tours“ nennt der Veranstalter in Storms River Village das Angebot; könnte Baldachinpartie, könnte auch Himmelfahrt heißen, überlegen einige und spähen ins Dickicht. „Alles ohne Naturschäden, alles ohne Schrauben“, versichert Wynand. Wir werden auf keinen Fall umkehren. In einer Gruppe vor uns soll ein drei Jahre altes Kind aus Neuseeland zwischen den Baumstämmen umhergesaust sein. Wir kehren nicht um.

 

Mit fünfzig Stundenkilometern über den Wald

 

Alle streifen die Wildlederhandschuhe über und zurren den Helm unter dem Kinn fest. Ein Schritt noch bis zum Plattformrand. Wynand klinkt die drei Karabiner ein, die am Hüftgurt baumeln. Wir pendeln am Seil, und Wynand hält nur noch den schmalen Gurt fest. Eine letzte Warnung, die sich um ausgekugelte Schultern dreht. Dann lässt er los. Und wir rasen über den Abgrund, mit geschlossenen Augen. Es war gar nicht so schlimm. Die Brille stürzte nicht in die Tiefe, wir prallten gegen keinen Zweig, der Oberarmknochen rutschte nicht aus der Gelenkpfanne. Genaugenommen war es sogar sehr schön, irgendwie luftig und rasant. Gleich noch mal. Diesmal kneifen wir die Augen nicht zusammen, sondern schauen. Giftgrün, Grellgrün, Grasgrün. Schnell noch mal. Mutiger geworden, schlenkern wir jetzt ein wenig mit den Beinen. Mannshohe Farne, rorschachartige Moosflicken, ovale Eukalyptusblätter. Der längste Abschnitt führt über zweiundneunzig Meter, und wer dort mit der behandschuhten Hand nicht allzu viel bremst, fliegt mit fünfzig Stundenkilometern durch und über den Wald. Storms River fänden wir wunderbar, notieren wir adrenalinfroh auf Wynands Fragebogen.

Zwischen Boulevardblättern und Nachrichtenmagazinen klemmt eine Ausgabe von „Farmer’s Weekly“ im Zeitungsregal. Was Landwirte tun müssen, wenn sie ihren Bauernhof in eine Safarifarm umwandeln wollen, wenn sie Besucher anlocken möchten, ist das Titelthema. In hohlen Baumstämmen Nashornvögel ansiedeln, flache Granitfelsen für Klippschiefer herbeischaffen und Gruben für Warzenschweine schaufeln, empfiehlt das Wochenmagazin als erste Schritte. Denn mit den Tieren kämen die Touristen. Die dürfen nicht ausbleiben. Der Fremdenverkehr ist eines der wenigen Felder, auf denen in Südafrika Arbeitsplätze entstehen. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt von weniger als zwei Dollar am Tag. Nach offiziellen Angaben haben siebenundzwanzig Prozent der Erwachsenen keinen Job; der Weltbank zufolge ist eine Quote von vierzig Prozent weitaus wahrscheinlicher. Ohne den Tourismus wäre sie noch höher.

 

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Da ist der schmächtige Kunsthandwerker, der im Staub dicht an der Autostraße mit Knochensalatbestecken wartet und um jeden Rand feilschen muss. Da ist die junge Kellnerin, die im Restaurant Bramon Cap Classique von 2005 einschenkt und mit den Trinkgeldern ihr Jurastudium in Kapstadt finanziert. Da ist der zahnlose Kofferträger, der vor dem Flughafengebäude ausharrt und für ein paar Münzen Gepäckstücke auf den Rollwagen wuchtet. Und da sind Eugene, Steve und Wynand. Eugene hat mehr als zwanzig Arbeitskollegen, Steve acht, Wynand fünfundzwanzig, wenigstens im südafrikanischen Sommer zwischen November und März, wenn die Nordhalbkugelbewohner vor der Kälte fliehen. In den übrigen Monaten aber sinkt die Zahl der Gäste und damit auch die Zahl der Berufstätigen.

Wenn keine Briten Poloschläger schwingen, keine Backpacker die perfekte Welle suchen, keine Bungeespringer von zweihundert Meter hohen Brücken hüpfen, ist es still an der Garden Route. Zwischen Mossel Bay und Tsitsikamma haben sich kaum Industriezweige angesiedelt. Nur im Hafenstädtchen Knysna verarbeiten drei Fabriken Hölzer aus umliegenden Wäldern; sie bauen Boote, machen Papier und schreinern Möbel. Sonst gibt es nichts zu tun. Ein halbes Jahr lang von den Reserven leben und auf die „Life’s great!“-Angebote im Supermarkt warten, zum Beispiel zwei Liter Vollmilch für 9,99 Rand. Ein Spiel, auf dem Land, im Wasser und in der Luft? Es ist mehr als ein Spiel. Für die, die in windschiefen Wellblechhütten wohnen, für die, deren gebündelte Ersparnisse in Küstenpensionen stecken. Viel mehr.

Erschienen in F.A.Z. am 29. März 2007

Fotos: Inka Wichmann