Wohnen wie Mae West

Klare Linien, rechte Winkel: Der Architekt Richard Neutra schuf helle, lichte Häuser – nicht nur an der amerikanischen Westküste, sondern auch in der deutschen Provinz. Zum Beispiel in Wuppertal, Königstein und Walldorf.

Von Inka Wichmann

Er fragte die Kunden Löcher in den Bauch. Ob die Familie gerne am Kamin sitze, ob das Kind oft Freunde einlade, ob das Paar gleichzeitig zu Bett gehe – Richard Neutra wollte alles wissen. Dabei war er kein Therapeut, sondern Architekt. Doch er fand, dass das Verhältnis zwischen einem Architekten und einem Klienten der Beziehung zwischen einem Arzt und einem Patienten ähnele. Denn auch der Architekt muss die Vorgeschichte seines Gegenübers kennen. Nur dann kann er ein Haus entwerfen, das zum Zuhause wird – so sah es Neutra. Und erkundigte sich freundlich nach den Zähneputzgewohnheiten der Bauherren.

Kleine Wasserbassins, hohe Fensterscheiben, auskragende Flachdächer – Richard Neutra steht für die Moderne, für Bungalows aus Stahl, Glas und Holz. Er schuf ebenso lichte wie leichte Bauten, nämlich Häuser, bei denen Wohnzimmer und Sonnenterrasse, Innen und Außen, ineinander übergehen. Wer seinen Namen hört, denkt an die amerikanische Westküste. In der Wüste um Palm Springs, zwischen den Eichen von Montecito und in den Hügeln von Los Angeles baute er seine berühmtesten Villen. Dennoch arbeitete er nicht allein in Kalifornien. Sondern auch in Wuppertal, Königstein und Walldorf. In der deutschen Provinz.

Aufbruch in die Neue Welt

In Europa errichtete Richard Neutra insgesamt acht Villen und zwei Siedlungen. Damit kehrte er im Grunde zu seinen Wurzeln zurück: Neutra stammte aus Wien. Dort freundete er sich mit Sigmund Freuds Sohn Ernst an, dort studierte er bei dem Amerikaliebhaber Adolf Loos. Anfang der zwanziger Jahre fand er eine Anstellung bei dem Architekten Erich Mendelsohn in Berlin. Aber es zog ihn weiter in die Ferne: Er wollte nach Amerika! Hingerissen von Frank Lloyd Wrights Bauten, wanderte er 1923 zusammen mit seiner Frau Dione in die Vereinigten Staaten aus. Sie lebten erst in New York, dann in Chicago und schließlich in Los Angeles. Der Aufstieg begann.

Das Gebäude sei eines der wichtigsten Wohnhäuser des 20. Jahrhunderts, nein, eine Ikone der Moderne schlechthin, heißt es. Wenn es um Haus Lovell geht, sparen Kritiker selten mit Lob. Mit jenem Bau wurde Richard Neutra 1929 berühmt: Er hatte das erste amerikanische Wohnhaus mit Stahltragwerk geschaffen. Das Grundstück – ein steiler Hang – machte es ihm zudem nicht leicht; es scheint, als schwebe die Villa. Später erfand er viele Konstruktionen, die Architektur und Natur verknüpfen, unter anderem Deckenträger, die das Haus in die Natur verlängern, und Wasserbecken, die die Natur zum Haus holen, spider legs und reflection pools.

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Rückkehr in die Alte Welt

Sein Ruf schwappte über den Atlantik. Nicht nur Fachartikel, auch Hochglanzmagazine – Filmgöttin Mae West war eine Auftraggeberin – berichteten über die sonnendurchflutete Häuser. So sah er also aus, der American Way of Life. So modern, so schön wollten die Leser selbst wohnen. Einige hatten den Mut, einen Brief aufzusetzen: Nur Neutra könne seinen Träumen gerecht werden, schrieb etwa Professor Martin Rang aus Königstein. „Der Gedanke, dass Sie inzwischen in Deutschland, und zwar – soweit ich gehört habe – auch Einfamilienhäuser bauen, lässt mir keine Ruhe.“ Wenig später machte sich Neutra an den ersten Entwurf.

Zu den Amerikanern kam er mit der deutschen Avantgarde, den Deutschen wiederum brachte er die amerikanische Moderne. Daran sollte auch der Mittelstand teilhaben: Die Betreuungs- und Wohnbau GmbH startete ein Siedlungsprojekt in Walldorf. Sie erwarb 35 Hektar Land in einem Kiefernwald unweit des Frankfurter Flughafens. Allen Widrigkeiten zum Trotz – Neutra stritt zum Beispiel mit dem Auftraggeber über Windfänge – entstanden auf dieser Fläche 42 Häuser. Sie sind bescheidener als ihre kalifornischen Vorbilder. Trotzdem: Es gibt reflecting pools, in denen sich Wolken spiegeln, es gibt spider legs, die das Dach stützen.

Ein Schauspieldirektor und ein Schriftsteller, Musiker und Sänger – sie alle ließen sich Mitte der Sechziger in Walldorf nieder. Sie schätzten die klaren Linien, die rechten Winkel. Mit den Jahren allerdings wechselten die Besitzer, wandelte sich der Geschmack. Spätere Eigentümer wussten mit Neutras Entwürfen – Mahagoni in der Garage, an den Türen, an den Schränken – nichts anzufangen. Die Häuser erschienen ihnen etwas schlicht. Manche setzten rosa Badewannen und goldene Wasserhähne ein, andere klebten falschen Stuck an die Decke und bunte Fliesen auf den Boden. Richard Neutras Werk in Walldorf geriet in Vergessenheit.

„Neutra-Bungalow in Walldorf zu verkaufen“ – auf diese Anzeige stieß Hilmer Goedeking im Immobilienteil einer Tageszeitung. Goedeking, selbst Architekt, lebte seit 14 Jahren in der Nähe von Frankfurt, doch von der Siedlung hatte er nie gehört. Er zögerte nicht: Rasch unterzeichnete er den Kaufvertrag. Er ersetzte die Scheiben, dämmte das Dach, erneuerte die Dusche. Man sollte allerdings nicht sofort merken, was er eingefügt hatte. Er grübelte: „Wie können wir weitererzählen, was damals gedacht war?“ Für die Decke fand er beispielsweise ein Sägewerk, das alte Profile fräsen konnte. Nun sieht das Holz so aus, als habe Neutra persönlich es geordert.

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Richard Neutra überließ nichts dem Zufall. Beim „Haus Lovell“ untersuchte er selbst die Schraubbolzen, beim „Haus Kaufmann“ lernte er die Steinmetze eigenhändig an. Bisweilen soll er sich vergewissert haben, dass die Bauherren auch das richtige Zahnbürstengestell ins Badezimmer rückten. In Walldorf schaute Neutra ebenfalls noch einmal vorbei. Peter Härtling, ein Bewohner der Siedlung, hat dem Hessischen Rundfunk davon erzählt: Kaum war der Autor mit seiner Frau eingezogen, klingelte der Architekt. Er wollte nachsehen, ob Haus und Hausbesitzer zusammenpassten. „Er war zufrieden“, sagt Peter Härtling. „Und wir blieben es auch, mit seinem Haus.“

Erschienen in F.A.Z. 2012

Richard Neutra in Amerika

Barbara Lamprecht hat im Taschen-Verlag das Buch „Richard Neutra. Gestaltung für ein besseres Leben“ veröffentlicht. Der Band widmet sich vor allem den kalifornischen Bauten Neutras. Unter anderem die Häuser Lovell, Kaufmann und Van der Leeuw Research werden gewürdigt. Viele der Bilder stammen von dem New Yorker Fotografen Julius Shulman.

Fotos: Robert Lochner / chogenbo / Flickr CC Lizenz (Innenansicht); IK’s World Trip/Flickr CC Lizenz (Außenansicht)