Keine andere Stadt in Europa feiert Weihnachten so inbrünstig wie Kopenhagen. Das liegt auch an Hans Christian Andersen. Seinen Figuren begegnet man in der Adventszeit überall.
Von Inka Wichmann
Der Weihnachtsmann klappt den Regenschirm zusammen, bevor er an den Torbogen tritt. Dort hat sich ein Dutzend Kinder mit Pudelmützen versammelt. Mit Trinkpäckchen lassen sie sich nicht länger vertrösten. Sie wollen endlich ins Tivoli, in Kopenhagens Vergnügungspark, in das Märchenreich voller Lichterketten, Hotdogs und Plüschtiere, die man mit fünf gezielten Würfen gewinnen kann. Es ist kurz vor elf Uhr. In fünf Minuten öffnet der Park, in einer halben Stunde drehen sich die Karussells. Schnee rieselt auf die Fahrgeschäfte, auf den Tintenfisch, die Achterbahn, den Goldturm. Überall werkeln Helfer in Thermohosen. Einer bedeckt Blumenzwiebeln mit Tannengrün, einer schnitzt einen Teddybär aus einem Eisblock, einer fegt das Kettenkarussell mit einem Handbesen. Rund um die Imbissbuden riecht es nach Kirschwaffeln. Während eine Verkäuferin das Crêpes-Eisen anwirft, türmt ihre Nachbarin Hefeschnecken auf, gefüllt mit Zimt, Pistazie oder Kokos. Alle wappnen sich für den Adventsansturm. Denn Kopenhagen ist eine Weihnachtsstadt.
Dafür hat nicht zuletzt Hans Christian Andersen gesorgt, erst bitterarmer Schuhmachersohn, dann erfolgreicher Märchenerzähler. Der Schneemann, der für einen Holzofen schwärmt, die Schneekönigin, die in einem Eisschloss thront, der Tannenbaum, der in einem Braukessel verglüht – sie alle sind seine Geschöpfe. Sie bevölkern nicht nur das Tivoli, sie prägen auch die Stadt. Kopenhagen feiert Weihnachten mit Inbrunst. Die Blumenhändler winden Adventskränze mit Goldäpfeln, die Küchenchefs kochen Reispudding mit Mandelsplittern, die Bäckermeister füllen Nougatrollen mit Orangentrüffeln. Es ist schwer, ein Schaufenster zu finden, in dem kein Weihnachtskobold zwischen Zuckerstangen und Fliegenpilzen sitzt. Wer beim Konditor Marzipan einkaufen möchte, muss eine Nummer ziehen wie in einem überfüllten Bürgerbüro bei der Reisepassausgabe. Im Dezember herrscht Trubel in der Stadt, vor allem für die, die Weihnachtskrapfen backen, Weihnachtsschmuck verkaufen, Weihnachtsbäume liefern.
Der Wind beißt Leben ein
„Der Wind kann einem wirklich Leben einbeißen“, lässt Hans Christian Andersen den Schneemann juchzen, eine seiner berühmtesten Figuren. Auch Rud Christiansen mag den Wind, die Kälte, den Schnee. Den Dezember verbringt er immer in Kopenhagen. Dort hat er vor drei Jahren im Stadtzentrum „The Royal Café“ eröffnet, ein Kaffeehaus, das Sahnetorte auf Porzellantellern mit Goldrand kredenzt. Von der Decke baumeln Papierherzen, die Rud Christiansen in Weißrot, Weißgrün und Weißblau gebastelt hat. „Das ist vielleicht ein bisschen feminin“, sagt er, mit dem Rücken zu den Windröschen an der Wand, „aber Cafébesucher sind nun einmal zu vier Fünfteln Frauen.“ Da spricht der Geschäftsmann aus ihm. Früher hat er erst Nudeln, später Schokolade und schließlich Tee vertrieben. Vor vier Jahren verkaufte er sein Unternehmen, um sich in den Ruhestand zu verabschieden. Für genau eine Woche. Dann schmiedete er Pläne für das Café. Nun tischt er Pfeffernüsse auf und tütet Lebkuchen ein.
„Um Himmels Willen!“, ruft Rud Christiansen, als eine Touristengruppe Weihnachtskrapfen mit dem Kuchenbesteck zerteilt. „Meine Æbleskiver isst man mit der Hand, nicht mit der Gabel!“ Seine Æbleskiver sind Teigbällchen, die aus Hefe, Milch und Eiern angerührt werden. Ein Sternekoch will sie jetzt mit Gänseleber füllen, manche Speisekarte soll sie inzwischen mit Tintenfisch auflisten. Gänseleber! Tintenfisch! Rud Christiansen schüttelt sich. Æbleskiver bestäubt man mit Puderzucker, Æbleskiver tunkt man in Johannisbeermarmelade, Æbleskiver serviert man mit Glühwein. Das ist alles. Während Rud Christiansen erzählt, wandert seine Lesebrille vom Hemdkragen über die Nasenspitze zum Haarkranz. In der Schwingtür zur Küche zerschellt ein Porzellanteller. Rud Christiansen zuckt zusammen. „Wissen Sie, wie viele Kronen ich jedes Jahr für Geschirr ausgebe?“, fragt er. „Aber der Advent ist die geschäftigste Zeit im Jahr.“ Draußen im Innenhof weht ein Weihnachtsmannkostüm an der Wäscheleine. Es schneit.
Die Flocken wachsen
„Die Schneeflocken wurden größer und größer, zuletzt sahen sie aus wie weiße Hühner“, schreibt Hans Christian Andersen über den Auftritt der Schneekönigin. Einige Seiten später nehmen die Flocken noch die Gestalt von Schweinen, Bären und Schlangen an, doch da ist die Geschichte schon am nächsten Schauplatz angelangt. Es ist das „fürchterliche, eiskalte Finnland“. Mit Hühnern haben Jette Frölichs Flocken nicht allzu viel gemein. Sie besitzen kein Federkleid, sie bestehen aus Transparentpapier. Seit mehr als drei Jahrzehnten entwirft Jette Frölich – hellblaue Strickjacke, schwarzer Tellerrock, blonde Kurzhaarfrisur – Weihnachtsschmuck. Für jede Saison denkt sie sich knapp hundert Modelle aus: Tannenbäume aus Porzellan, Sternschnuppen aus Eisen, Schlittschuhläufer aus Pappe. Und eben auch Papierflocken. Die zeigt sie in Holtegård, einem Herrenhaus mit Sprossenfenstern, Kiesauffahrt und Glockenturm. Diese Villa vor den Toren der Stadt beherbergt eigentlich ein Museum. Im Sommer gibt es dort Egon Schiele, im Winter Jette Frölich.
Wenn Jette Frölich ihre Muster aus Papier ausschneidet, läuft im Radio keine Weihnachtsmusik, und im Ofen backen keine Weihnachtskekse. Sie beginnt im Sommer mit der Arbeit. Doch sie muss auch kein Spritzgebäck knuspern, um sich in Adventsstimmung zu versetzen. Als sie ihre ersten Stücke plante – es waren Kerzenhalter, die wie Königskronen aussehen -, lebte sie mit ihrem Mann in Iran. Inzwischen kann man ihre Werke in London ebenso wie in Ostwestfalen bekommen. Und jeden Winter schmückt Jette Frölich das Museum, zündet Teelichter an, versprüht Kunstschnee, wickelt Zierpäckchen ein. So können sich ihre Kunden, alte Damen mit Filzhüten und junge Pärchen in Öljacken, besser vorstellen, wie die Engel und Sterne zu Hause aussähen, aufgehängt am Baum und Fenster. Jahr um Jahr Engel und Sterne, Jahr um Jahr Silber und Gold. Trotzdem mag Jette Frölich Heiligabend noch immer. „Die Menschen sind an Weihnachten einfach netter“, sagt sie.
Der Baum bebt
„Oh, wie der Baum vor Erwartung bebte!“, heißt es bei Hans Christian Andersen über den Tannenbaum, an dem die Diener und Fräulein Äpfel und Walnüsse festzurren. Mit Christbäumen kennt sich Kai Østergaard aus: Er stellt sich als Direktør vom Fachverband der dänischen Produzenten von Weihnachtsbäumen und Tannengrün vor. Kai Østergaard fröstelt – trotz Daunenanorak, Wollschall und Schirmmütze kriecht die Kälte in die Glieder: Er stapft mitten durch Frilandsmuseet, ein Freilichtmuseum nördlich von Kopenhagen. Eine Schneedecke liegt auf den Reetdächern der alten Windmühlen, Fischerhütten und Bauernhäuser, die sich dort aneinanderreihen. Auch Hagebuttensträucher biegen sich unter der Schneelast. Kai Østergaard schlittert auf einen Backsteinbau zu, an dessen Regenrinne Hunderte Eiszapfen hängen. Hinein, hinein. Die Holzdielen knarren. Es geht vorbei an einem Kaffeetisch mit geblümtem Porzellan, an einem Zweisitzer mit verschlissenen Samtkissen, hinein in die gute Stube. Neben dem Holzschrank steht der Weihnachtsbaum.
Rotweiße Rosenblüten klemmen an den Zweigen, rotweiße Leinenflaggen stecken an der Spitze. So putzten die Dänen ihre Bäume im späten neunzehnten Jahrhundert heraus. Baummoden, das ist Kai Østergaards Fachgebiet: Dänemark beliefert fast ganz Europa mit Weihnachtsbäumen. Kai Østergaard kramt ein paar Tortengrafiken hervor. Auf dem Weihnachtsbaummarkt tut sich etwas. Früher schlugen die Menschen breite und natürlich gewachsene Kiefern im Wald, heute schleppen sie schmale und leicht zurechtgestutzte Tannen nach Hause. Nächste Grafik. Innerhalb Europas herrschen recht unterschiedliche Vorlieben. Italiener und Franzosen zum Beispiel schätzen schmächtige, Dänen und Deutsche hingegen eher wuchtige Bäume. Zwei Meter Höhe dürfen es schon sein. Es dauert mehr als acht Jahre, bis eine Tanne diese Größe erreicht. In dieser Zeit muss sie Nachtfrost trotzen und Käferplagen aushalten. „Ein Baum ist Schmuck genug“, sagt Kai Østergaard. Wenn er seine Tanne verziert, begnügt er sich mit ein paar Sternen, Kerzen und Flaggen. Denn der Baum selbst soll wirken.
Zwei, drei Schreie gellen durch den Park. Noch lässt der Dämon, angeblich das wildeste Fahrgeschäft im Tivoli, ein paar Gäste durch die Lüfte rasen. Es ist zwanzig Uhr, und langsam leert sich die Anlage. Der Weihnachtsmann scheint verschwunden, genauso wie die Kinder mit den Pudelmützen. Der Glühweinmann hingegen harrt in seiner Bude aus, auch der Süßwarenhändler preist weiter seine Ware an, Lakritze in Schokolade. Doch kaum jemand macht an den Verkaufstresen halt. Schneeregen. Noch zwei Stunden, bis der Park seine Pforten schließt. Vereinzelte Besuchergrüppchen rutschen über eine Holzbrücke. Sie wollen die Weihnachtslichter über dem See sehen. Als Trockennebel aufwallt, schießen Laserstrahlen empor. Das Wasser schimmert erst grün, dann orange. Aus den Lautsprechern schallt Orchestermusik, ein paar Takte erinnern an ET, den Außerirdischen. Kaum ist der letzte Ton verklungen, eilen die Zuhörer in die umliegenden Restaurants, zu Pilzsuppe, Entenbrust und Mandarinensorbet. Und schauen, dicht neben dem Heizpilz, auf das Schneetreiben.
Erschienen in F.A.Z. am 23. Dezember 2010
Fotos: Inka Wichmann