Eine kleine Berufsgruppe darf während der Arbeit schnüffeln, schlürfen und schmatzen. Besuch bei einem Teeverkoster in Bremen.
Von Inka Wichmann
Parfüm benutzt er nie. Wenn Christoph Michaelsen zur Arbeit geht, trägt er zuvor weder Rasierwasser noch Handcreme auf. Jeder Zedernholzduft, jedes Zitronenaroma könnte sein wichtigstes Arbeitsinstrument beinträchtigen, nämlich seinen Geruchssinn verwirren. Seine Nase aber darf ihn nicht trügen. Christoph Michaelsen ist Teeverkoster. Sobald er seine Nase in eine Kanne steckt und an einem Aufguss schnuppert, weiß er, ob er eine Rarität aufgespürt hat. Deshalb dürfen keine ablenkenden Düfte durch die Firmenräume seiner Betty Darling Company in Bremen wehen. Daran müssen sich auch Besucher halten. Im Gästebadezimmer liegt neben dem Waschbecken ein kleines Stück Kernseife. Unparfümiert, versteht sich.
Fast wäre Christoph Michaelsen Jurist geworden. Eigentlich hatte er keine rechte Lust, den klassischen Michaelsen-Teehandel – im Familienbesitz seit 1885 – fortzuführen. „Dann aber hat mein Vater mich gelockt“, sagt der Einundvierzigjährige, an dessen dunkelblauen Jackettärmeln Goldknöpfe glänzen. Überzeugt hat ihn der Vater mit dem Konzept der Betty Darling Company. Die sollte die Kunden zum einen direkt auf dem Postweg beliefern. Und sich zum anderen auf sorgsam ausgewählte, unverfälschte Teesorten beschränken. Christoph Michaelsen musste nicht allzu lange überlegen: „Kein im Geschenkestübchen kontaminierter, durch Tropenzauber aromatisierter Tee“ – das kam ihm ziemlich reizvoll vor. Er tauschte den Gerichtssaal gegen die Teeküche, wurde Geschäftsführer und Teeverkoster.
Schlürfen will gelernt sein
„Wahrscheinlich gibt es nicht mehr als zwanzig Teeverkoster in Deutschland“, meint Michaelsen. Wer einen Tee richtig einordnen will, braucht einen großen Erfahrungsschatz. Der speist sich vornehmlich aus Aluminiumpäckchen, aus unzähligen Mustertüten. Mit denen wollen Plantagenbesitzer neue Pflückungen vorstellen. Bloß ein Teeliebhaber, der einen erheblichen Teil dieses Angebotes kennt, kann mit Bestimmtheit sagen, ob ein Preis angemessen und ein Produkt aufsehenerregend ist. „Es reicht nicht, einen Tee lecker zu finden“, sagt Christoph Michaelsen. Manchmal dauert es fünf, manchmal auch sieben Jahre, bis jemand aus Farbe, Geruch und Geschmack die richtigen Schlüsse ziehen kann. Viele lernen das Verkosten von ihren Vorgängern. Zum Beispiel von ihren Vätern und Großvätern.
Zwei Dutzend Teehaufen türmen sich auf Pappstreifen. Einige Teeblätter sind zu Kugeln, andere zu Knospen gerollt, einige haben eine grüne, andere eine schwarze Farbe. Zwischen einigen von ihnen schimmern helle Spitzen. „Das sind die Blattknospen“, erläutert Christoph Michaelsen. Vor den Probepappen warten zierliche Kannen aus weißem Porzellan. In jede rieseln – dem Gewicht einer alten englischen Sixpence-Münze entsprechend – 2, 86 Gramm Tee. Auf dem Gaskocher pfeift der Wasserkessel. Irene Bittner, seit zwölf Jahren im Betrieb, gießt kochendes und siedendes Wasser in die Kannen. „Stunde der Wahrheit“ nennt Michaelsen den Moment, der jetzt näher rückt. Nach fünf Minuten Ziehzeit scheppert eine Küchenuhr. Ein wichtiges Utensil fehlt allerdings noch.
„Man muss die gute Kinderstube niederkämpfen“
Über den Parkettfußboden rollt Christoph Michaelsen einen hüfthohen Metallbottich herbei. „Man muss die gute Kinderstube niederkämpfen“, sagt er, bevor er aus der Porzellantasse schlürft und dann in den Blechbehälter spuckt. Täte er das nicht, bekäme er womöglich einen Teeschwips. Denn Teetester probieren oft zweihundert, manchmal auch dreihundert Musterlieferungen am Tag. Sehen, Riechen, Schmecken. Vergleichen, Urteilen, Entscheiden. Christoph Michaelsen hakt während des Durchlaufs keine Liste mit Qualitätsmerkmalen ab. Noch nicht einmal im Kopf. Er sagt: „Es geschieht ganz automatisch. Ich probiere, ohne zu denken.“ In fünf Minuten zwei Dutzend Teesorten, grüne und schwarze, herbe und süße, kostspielige und preiswerte.
Nach seinem gewöhnlichen Tagwerk, nach zweihundert Teeproben – fährt er dann in die Innenstadt Richtung Markt und bestellt dort heimlich einen Milchkaffee mit Karamellsirup? Christoph Michaelsen guckt entsetzt. „Dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch und nippe an einem Tässchen Darjeeling.“ Außerdem schaltet er rasch seinen Computer ein. In E-Mail-Wechseln feilscht er mit den Plantagenbesitzern um die Teesorten, die er ordern will. Verhandlungsgeschick ist vonnöten: „Jede Seite erwähnt früher oder später die Münder, die zu Hause zu stopfen sind.“ Haben sich die E-Mail-Schreiber trotzdem geeinigt, werden die Waren sogleich versandt. Nach zwei Tagen mit dem Flugzeug, nach sechs Wochen mit dem Frachtschiff kommen sie in Bremen in Christoph Michaelsens Lagerräumen an.
Wenn er das Teelager im Erdgeschoss betritt, schlüpft er in Stahlkappenschuhe und setzt eine Plexiglasbrille auf. Nach wie vor treffen viele Lieferungen nicht in weichen Säcken, sondern in robusten Kisten ein. Wer die wuchtet, muss seine Füße gegen scharfe Weißblechkanten und seine Augen gegen fliegende Holzsplitter schützen. Auf den Kisten prangen chinesische Schriftzeichen. Dass größere Teile des Sortiments aus China, kleinere aus Indien stammen, erzählt Michaelsen, während er „Toppest Fancy Oolong“ in die Waagschale schippt. Teestaub wirbelt auf. Die Kupferwaage, die Metallschaufel – ungefähr so haben Christoph Michaelsens Vorfahren vor hundertzweiundzwanzig Jahren auch in ihrem Teespeicher gewerkelt. Vielleicht stand nur keine Zementmischmaschine für die Teemixturen in der Ecke.
Nebenan aber fände sich der Ururgroßvater womöglich nicht ohne weiteres zurecht. Dort surrt ein Computer, rappelt ein Drucker. Über mehrere Fließbänder zuckeln Zweihundertfünfzig-Gramm-Dosen. Die erste Maschine füllt den Tee ein, die zweite drückt den Deckel drauf, die dritte klebt ein Etikett fest. Weil sich die Dosen bisweilen stauen, behält Christoph Michaelsen das Laufband im Blick. Diesmal aber leuchtet das Maschinenlicht grün. Eine Dose nach der anderen rumpelt über die Rampe zu den blauen Plastikpaletten. Die letzte Station auf dem Weg des Tees kann allerdings kein Verkoster mehr überwachen. Christoph Michaelsen kann nicht prüfen, welches Wasser, welches Geschirr die Teetrinker verwenden. Für eines will er jedoch sorgen: „Bitte gießen Sie keine Kaffeesahne in Ihren Tee.“
Erschienen in F.A.Z. 2007