Der letzte Haiangriff am Bondi Beach liegt mehr als siebzig Jahre zurück. Dennoch haben die Küstenwächter von Sydney immer genügend zu tun, etwa mit Surfunterricht.
Von Inka Wichmann
Am Bondi Beach lauern jeden Dienstagabend größte Gefahren. Vor der Küste kreisen Hammerhaie und treiben Seeblasen, donnern Wellen und wirbeln Strömungen. Strandwächter ziehen bewusstlose Surfer und erschöpfte Schwimmer aus den Fluten, an Land verarzten sie aufgeschürfte Knie und ausgekugelte Schultern. Danny McKell beobachtet vom Wachturm aus durch einen Feldstecher das Meer. Sobald sich ein Arm hilfesuchend nach oben reckt, ein Kopf japsend wieder untertaucht, zückt McKell das Funkgerät. Dass drei Menschen auf die Felsklippen zudriften, ruft er ins Mikrofon, und sein Kollege Dean Gladstone springt auf das Wassermotorrad und braust durch die Bucht zur Gefahrenstelle. Derweil schwillt Musik an. So geht das jeden Dienstagabend. Um zwanzig Uhr. Seit nun schon zwei Jahren. So lange strahlt der australische Privatsender Network Ten die Fernsehserie „Bondi Rescue“ aus, die sich um die Lebensretter an Sydneys berühmtestem Strand dreht.
Die Seifenoper beschere dem Kanal ungeheure Zuschauerzahlen, sagt der Programmdirektor. Keine andere Sendung habe zu dieser Zeit höhere Marktanteile. Und prompt gesteht eine junge Deutsche, die ihres Verlobten wegen vor sechs Monaten nach King’s Cross zog, dass sie keine Folge versäume. Sie halte sich den Dienstagabend immer frei, erzählt auch die freundliche Chinesin, die an der King Street Wharf Restaurantgäste betreut. Nur der Tankwart an der Straße in Sydneys Süden wundert sich über die wachsende Anhängerschaft. Neben der Kasse liegt eine Fernsehzeitschrift, die Danny McKell, Dean Gladstone und ihren genauso bronzebraunen, nervenstarken Kollegen eine Doppelseite einräumt. Diese Bondi-Begeisterung nehme jetzt wirklich überhand, findet der Tankwart und zeigt dabei seine Zahnlücke. Dann rechnet er eine Tüte Fruchtgummi und das Heft mit der Doppelseite ab.
Die beiden Seiten erzählen mit wenigen Bildern fast alles, was man wissen muss. Junge Frauen in verführerisch geschnittenen Bikinis schlafen unter Kunststoffschirmen, in den Gesichtern der meisten Surfer kleben noch Spuren von Zinksalbe. Offenbar brennt die Sonne unentwegt. Zumindest an Dienstagabenden.
Windjackenwetter auf der Südhalbkugel
An diesem Donnerstagnachmittag hingegen sieht es am Bondi Beach anders aus. Eher wie im Nordseeurlaub. Große graue Wolken ballen sich, höchstens ein schmaler blauer Streifen blitzt auf. Regenwasser tropft von den Plastikstühlen, die vor einem Fischimbiss stehen. Ein paar Halbwüchsige wischen die Sitzflächen mit Badetüchern trocken und essen Frittiertes von Papptellern. Dass nicht mehr allzu viele Besucher mit panierten Meeresfrüchten vorbeikommen werden, scheinen sogar die Möwen zu ahnen; zwei Dutzend Vögel zugleich stürzen sich gierig auf die Tintenfischreste, die ein Gast beiseiteschiebt. Windjackenwetter.
Danny McKell, Dean Gladstone und die anderen Fernsehhelden sind nicht zu entdecken. Dafür aber David Hannagan, ein Mann in signalgelbem Polohemd mit alarmrotem Schriftzug. Das weist ihn ebenfalls als Rettungsschwimmer aus, als Mitglied des traditionsreichen North Bondi Surf Life Saving Club, gegründet 1906. „Dieses T-Shirt kann man nicht in Souvenirläden kaufen“, sagt er. „Dieses T-Shirt muss man sich verdienen.“ Wie das geht, will er im Vereinshaus an der Promenade zeigen. Im ersten Stock des Backsteinbaus erstreckt sich eine breite Fensterfront, vor der ein Fernglas baumelt. Von hier aus kann Hannagan die ganze Bucht überblicken, um dann im Zweifelsfall auf einen daumennagelgroßen Schalter an der linken Wand zu drücken. „Shark Alarm“ steht in blassen Druckbuchstaben neben dem Knopf. Vier-, manchmal fünfmal im Jahr heult die Sirene auf, weil in Küstennähe Haifischflossen aus dem Wasser ragen.
Schreckensgeweitete Augen blicken ihn an. „Der letzte Haiangriff in Bondi Beach liegt mehr als siebzig Jahre zurück“, versichert David Hannagan. Und vom Surfbrett aus habe er nur ein einziges Mal einen Hai erspäht. „Allerdings an einem Strand eine Stunde weiter nördlich“, fügt er hinzu, zwinkert und bekreuzigt sich. Dann lotst er die Besucherschar zurück ins Erdgeschoss, in einen Lagerraum. Dort steht zwischen Surfbrettern und einem Siegerpodest eine Seilwinde. Die wird in Ehren gehalten; sogar das Vereinswappen ziert das Gerät. Auf dem Dielenboden führt Hannagan vor, wie es in Gefahrensituationen benutzt wird. Bevor ein Retter sich in die Brandung stürzt, schlingt er sich die dünne Leine um die Hüften und schwimmt los. Sobald er den Ertrinkenden greifen kann, beginnen die Kollegen zu kurbeln und ziehen ihn samt Opfer aus den Fluten. „Kommt nicht mehr allzu häufig zum Einsatz“, meint David Hannagan jedoch. Öfter benutzt er einen Schaumstoffgurt oder gleich ein Surfbrett.
Lebensretter ist David Hannagan nur im Nebenberuf. Auf seiner Visitenkarte stellt er sich als Big Wave Dave vor – er arbeitet als Surflehrer. Der Mann mit dem kurzgeschorenen Haar ist schon seit mehr als dreißig Jahren Wellenreiter, jeden Tag zieht es ihn aufs Wasser hinaus, auch zu Weihnachten. „Weil es lässig aussieht.“ Das stimmt. Nach einer Weile wenigstens – wenn die Trockenübungen am Strand überstanden sind. Noch aber liegen wir bäuchlings im Sand und paddeln mit den Armen; danach üben wir, wie wir die Zehenspitzen und Handflächen aufsetzen müssen, wie wir den rechten und den linken Fuß nach vorne ziehen sollen, um uns schließlich geschmeidig aufzurichten. Der Sprecher von „Bondi Rescue“ hätte die Zuschauer an dieser Stelle in die Werbepause verabschiedet und zuvor noch in bangem Ton gefragt: „Ob die jungen, hoffnungsfrohen Surfer diese Herausforderung auf dem Meer meistern können?“
Big Wave Dave erwischt die Welle
Können sie nicht. Zumindest nicht alle. Die Welle, die uns tragen sollte, spült uns vom Surfbrett, das Surfbrett, auf dem wir gleiten wollten, stößt uns in die Seite. Und der Pazifik verschluckt uns. Salzwasser dringt in Mund und Nase. Noch ein Versuch. Erst die Zehenspitzen und dann die Handflächen, erst der rechte Fuß und dann der – Sturz in die Wogen. Das Surfbrett schließt sich allein der Welle an, die Sicherheitsleine zerrt am rechten Fußgelenk. Ob uns jemand bergen könnte? Vielleicht mit einer Seilwinde? Gerne auch mit einem Wassermotorrad? Neuer Versuch. Neuer Versuch mit Big Wave Dave, der das Brett zunächst zieht, damit uns die Strömung nicht fortzerrt, der das Brett schließlich anschiebt, damit uns die Brandung nicht überrollt. Unsere Welle türmt sich auf. Zehenspitzen, Handflächen, rechter Fuß, linker Fuß. Fast geschafft: Wir rasen mit den Fluten. Vielleicht eher kniend als stehend, immerhin eher juchzend als prustend, schießen wir auf den Strand zu.
Kein Zweifel, der Donnerstagnachmittag ist dem Dienstagabend vorzuziehen. Lieber Surfbrett als Fernsehsessel, lieber Windjacke als Zinksalbe, lieber Big Wave Dave als Danny McKell, beschließen wir. Aber einmal müssen wir doch noch nach den Rettungsschwimmern von Bondi Beach sehen. Am kommenden Dienstagabend. Die aufgeregte Stimme hatte so nett darum gebeten: „Schalten Sie auch nächste Woche wieder zu.“ Dann würden Zehntausende Badegäste gerettet. Zehntausende! Vor einer Haifischattacke.
Erschienen in F.A.Z. am 26. Juni 2008
Fotos: Inka Wichmann