Alles ist anders

Tina ist sieben Jahre alt, geht in die erste Klasse, liebt Sport – und hat das Down-Syndrom.

Von Inka Wichmann

Im Sommerurlaub hüpft Tina in den See neben der Jugendherberge. Wenn ihre Mutter vorher die Schwimmflügel aufgepustet hat und ständig nach ihr schaut. In den Winterferien lotst ihr Vater sie die Skipisten hinunter. Wenn die nicht allzu steil sind. Und nach der Schule radelt sie zum Spielplatz um die Ecke. Wenn die Stützräder festgeschraubt sind. Tina ist sieben Jahre alt und hat das Down-Syndrom.

Die meisten Menschen haben 23 Chromosomenpaare in jeder Körperzelle, also 46 Chromosomen insgesamt. Tina hingegen hat 47. Nach der ersten Zellteilung sind drei Chromosomen nicht auseinandergewichen – das Chromosom 21 liegt dreifach vor. Was diese Trisomie 21 verursacht, haben Forscher bislang nicht ergründet. Sie wissen nur, dass das Down-Syndrom eine genetische Veranlagung ist und keine Krankheit, die sich heilen ließe.

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Tina zerrt ihre gefütterte Jacke vom Haken und schlüpft in die neuen pinkfarbenen Schuhe mit Klettverschluss. Dann stapft sie Richtung Haustür. Mit der einen Hand zerknüllt sie einen Einkaufszettel. Auf dem stehen keine Wünsche, sondern reihen sich Filzstiftwellen aneinander. Ein Dutzend Linien führen über das Blatt. Was sie in der Stadt besorgen will, wissen ihre Eltern nicht. Tina kann noch nicht sprechen und schreiben. Und auch nicht alleine zum nächstgelegenen Geschäft laufen. Deshalb ist die Haustür abgeschlossen, und Tina muss umkehren.

Wegen des zusätzlichen Chromosoms in jeder Körperzelle ist manches anders. Tina wächst zum Beispiel langsamer als ihre beiden jüngeren Brüder Alex und Carlo, hört nicht ganz so gut und muss eine Brille tragen. Außerdem kommen ihre Zähne später; die Schneidezähne fehlen noch. Anders als viele Menschen mit Down-Syndrom hat Tina aber keinen Herzfehler, und eine Operation bleibt ihr erspart. Ihre Zunge liegt etwas schwerer im Mund. Deshalb kann sie die Wörter, die sie kennt, nicht sehr deutlich aussprechen. Doch wenn sie schimpft, ruft sie laut und vernehmlich „Gecko, Gecko, Gecko!“, und das ist der netteste Fluch, den man sich vorstellen kann.

Weil in Tinas Leben so vieles anders ist, brauchen ihre Eltern Unterstützung, Rat und Verständnis. Zuallererst hat ihnen die Lebenshilfe Frankfurt beigestanden. Sonntags kam Tinas Mutter Monika Repp mit ihr aus dem Krankenhaus, dienstags führte sie das erste Gespräch mit dem gemeinnützigen Verein. Der hat ihr zum Beispiel einen Arzt vermittelt, der viele Kinder mit Down-Syndrom behandelt. „Aber darum geht es nicht allein, es geht vielmehr um ein offenes Ohr für die Eltern“, sagt Monika Repp.

Deshalb trifft sie auch alle zwei Wochen fünf Frauen, deren Kinder körperlich und geistig behindert sind. Mit den Müttern kann sie sich austauschen. Ihnen muss sie nichts erklären. Sie wissen, was es mit dem „Mundschluss“ auf sich hat und dass Tina nachts in Windeln schläft. Einmal im Jahr begegnen Tinas Eltern sehr vielen Menschen, denen es so ähnlich geht wie ihnen. Sie besuchen mit ihrer Tochter das „Deutsche Down-Sportlerfestival“ in Kalbach. Dort hat Tina schon einmal eine Goldmedaille gewonnen. Ein Bild zeigt, wie sie mit ihrem wehenden roten Haar auf der Laufbahn rannte.

Tina hat jeden Tag ziemlich viel zu erledigen. Morgens geht sie in ihre Klasse, die 1a der Münzenbergerschule in Eckenheim. Dort trifft sie ihren besten Freund Vincent, der sie mit auf den Pausenhof nimmt. Danach macht sie bei einigen Kindergruppen mit. In einer übt sie Zeichnen und Malen, in einer anderen probiert sie Gitarrezupfen und Klavierklimpern, in einer dritten darf sie auf dem Spielplatz schaukeln und Waffeln backen. Einmal in der Woche muss Tina außerdem nach Mainz fahren, zu einer privaten Förderung. Da trainiert sie ihre Beweglichkeit, soll etwa auf einen Tisch klettern und sich dann den gelben Ball schnappen. Fast jeden Nachmittag hat Tina etwas vor. Für Kindergeburtstage und Übernachtungsbesuch bleibt da nicht viel Zeit. Aber noch hat auch niemand aus ihrer neuen Klasse gefragt.

Zu vielen Dingen hat Tina eine unumstößliche Meinung. Den Plastiktraktor ihres Bruders und den Fotoapparat mit Blitz mag sie sehr, dunkle Kinosäle und Menschenmengen im Zirkuszelt mag sie gar nicht. Manchmal macht sie aber auch Zugeständnisse. Kuchen zum Beispiel findet Tina eigentlich nicht so großartig. Sie isst lieber Würstchen mit Bratkartoffeln und dazu vielleicht ein Spiegelei. Trotzdem hat ihre Mutter sie eines Morgens in der Küche gefunden, vor einer Palette Eiern und einem Margarinepäckchen. Mehl war aus der Tüte gerieselt. Auf der Anrichte standen drei Backformen, der elektrische Mixer und eine Rührschüssel. In die schlug Tina gerade das siebte Ei. Sie wollte für Alex und Carlo eine Torte backen. Ihre jüngeren Brüder lieben Kuchen. Und Tina liebt ihre jüngeren Brüder.

 

Erschienen in F.A.Z. am 13. Mai 2006

Foto: The Journal of Cell Biologie/The JCB /Flickr CC Lizenz