Jeder kennt Amitabh Bachchan

Herz und Schmerz, Singsang und Samosas. Indische Filme sind irgendwie alle gleich und irgendwie immer schön. Ein langer Besuch im Kino und ein kurzer bei einem der Stars – Stippvisite in Bollywood.

Von Inka Wichmann

Der Platzanweiser zückt die Taschenlampe. Im schwachen Lichtschein versucht er, die fünffach gestempelte Kinokarte für die Mittagsvorstellung zu entziffern. Könnte Reihe F heißen, könnte auch Reihe E bedeuten. Schließlich zeigt er auf die abgewetzten, dunkelroten Ledersessel in Reihe H. Dort drängen sich schon ein paar Halbwüchsige mit Popcorntüten. Sie springen auf, als ein Schriftzug über die Leinwand flimmert: „Please stand up to honour the National Anthem.“ Die Landesflagge weht zur Nationalhymne. Reihe H summt mit. „Es lebe Indien“, rufen zwei, drei Männer, bevor sie sich wieder in die Sitze fallen lassen. Von einem Dutzend Ventilatoren surrt einer. Die Decken sind mit Schaumstoffstuck verkleidet, die Wände mit Palisanderholz. Fast jeder Platz im Saal ist belegt. Im Multiplex Gemini steht eine Premiere an: „Paathshaala“ heißt der Film. Radiohörer können schon das Hauptlied – ein bisschen Akustikgitarre, ein bisschen Schlagzeug – mitträllern, Zeitungsleser den Handlungsstrang nacherzählen – halb romantisch, halb politisch. Und alle kennen die Gesichter der Schauspieler: Sie kleben auf jedem dritten Bus in Bombay.

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Bombay ist Film. Auch im kleinsten Nest sehen die Menschen die Bilder aus der großen Stadt, die Sandstrände von Juhu, die Meerespromenade namens Marine Drive, die Glasfassaden von Bandra. Sie kennen ein prachtvolles, traumgleiches Bombay. In diesem Bombay schläft niemand auf Mauervorsprüngen, in Hauseingängen oder auf Handkarren, in diesem Bombay verdingt sich niemand als Müllsammler, Schuhputzer oder Raubkopienverkäufer. Nein, in diesem Bombay siegt das Gute über das Böse. Für hundertachtzig Minuten. Verstoßene Söhne ringen mit hartherzigen Vätern, bekehrte Lebemänner kämpfen um verarmte Schönheiten. Und gewinnen. Es ist die Gegenwelt, in der mit jedem Schnitt die Kleider, die Farben, die Orte wechseln können. Nach dieser Welt gieren die Menschen: Die indische Filmindustrie produziert jedes Jahr mehr als neunhundert Filme. Die meisten Werke entstehen in Hindi, viele in Tamil, Malayalam und Telugu. Auf Englisch ruft der Held höchstens einmal: „Nice to see you.“

Raunen im Multiplex Gemini. Der Vorspann zieht vorbei: ein Endzwanziger mit gewinnendem Lächeln, ein Mittfünfziger mit gerunzelter Stirn, eine Sechzehnjährige mit wippendem Zopf. Als sie sich eine Strähne hinter das Ohr steckt, juchzt Reihe H. Das Mädchen trägt einen grauen Faltenrock, einen roten Pullunder und weiße Kniestrümpfe: Der Film spielt an einer Schule. Dort soll ein neuer Lehrer – der Endzwanziger – Englisch und Musik unterrichten. Die Kinder umringen ihn, sobald er seine Gitarre hervorzieht, die Frauen schmachten, wenn er seine Grübchen zeigt. Vor dem Einschlafen schaut die Sechzehnjährige den Film einer Englischstunde auf dem Handy an. Versonnener kann man gar nicht gucken.

Doch es droht Gefahr: Die Verwaltung treibt den Direktor – den Mittfünfziger – in die Enge. Geld fehlt. Ehe ein Abgrund das Idyll verschluckt, darf das Publikum sich stärken. Eine Viertelstunde Pause. Das reicht für zwei Samosas, frittierte Teigtaschen mit würziger Kartoffelfüllung. Reihe H schiebt sich zum Ausgang.

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Bollywood-Filme haben ein Milliardenpublikum. Die ganze Familie kann mitkommen – keine anstößige Szene verschreckt die Großmutter. Die Zuschauer leben in Marokko und Ägypten, in Iran und Irak, in Afghanistan und Pakistan, in den Einwanderervierteln von Großbritannien und Amerika. Und natürlich in Indien. Überall in Indien. Dort sagt man deshalb zum Bespiel: Man könne in jedem beliebigen Dorf jeden beliebigen Menschen ansprechen – und er weiß, wer Amitabh Bachchan ist. Und nicht nur das: Er könne auch die besten fünf Filme des Altstars aufzählen. Um dann aus diesen fünf Filmen die schönsten Lieder anzustimmen, bei Bedarf obendrein vorzutanzen. Das kann kein westlicher Star von sich behaupten. Und einen Schrein mit Räucherstäbchen, Blütenblättern und Opfergaben hat wahrscheinlich auch noch niemand für Hollywood-Größen eingerichtet. Schon gar nicht in Indien. Dort dümpelt der Marktanteil der amerikanischen Produktionen unter fünf Prozent. Eines Tages würden die Jugendlichen denken, Hollywood leite sich von Bollywood ab, soll der indische Innenminister forsch verkündet haben.

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Im Multiplex Gemini überschlagen sich die Ereignisse. Die Schüler werden geknechtet, die Eltern ausgepresst, die Lehrer eingeschüchtert. Reihe H knuspert Popcorn. Der Schulleiter muss für Einnahmen sorgen. Er setzt auf Marketing und Branding, nicht mehr auf Gitarrenstunden und Englischvokabeln. Nur ein wackerer Kämpfer könnte dem üblen Treiben Einhalt gebieten. Der neue Lehrer? Mit verschränkten Armen stellt er sich hinter die Kinder, mit fester Stimme spricht er zum Direktor. Dem rinnt schließlich eine Träne über die Wange. Er begreift sein Unrecht. Dann darf wieder gesungen werden, getanzt werden auch. Die Kinogänger stolpern zum Ausgang, vorbei an türkisgestrichenen Wänden, auf die ein Zukunftsgläubiger Raketen, Satelliten und Planeten gepinselt hat.

Vor dem Filmpalast lauert ein Radioreporter, der erste Eindrücke aufschnappen will. Am benachbarten Imbissbüdchen mit ausgetretenem Mosaikfußboden und abgeschabten Holztischen sammeln sich die Filmfreunde. Einer Gruppe hält der Journalist das Mikrofon hin. „Die Musik bleibt im Ohr“, nuschelt der erste. „Das Thema ist wichtig“, druckst der zweite. „Die Darsteller haben ihre Sache gut gemacht“, murmelt der dritte. Dass die Filmcrew zwischendurch das Drehbuch verlegt haben muss, traut sich keiner zu sagen. Zufrieden zieht der Berichterstatter davon.

Götterglanz für fünfzig Rupien

Aus Bollywood speisen sich Radiosender und Fernsehstationen, Hochglanzmagazine und Tageszeitungen. Heerscharen von Klatschreportern beobachten jede Regung. Aishwarya und Shahrukh legten ihren Zwist bei! (Es gab eine Aussprache.) Narmadda und Deepika trugen das gleiche Kleid! (Deepika stand es besser.) Kareena und Sali trafen sich zum Tee! (Dabei nannte sie ihn liebevoll Saifoo.) Und am schlimmsten: Hrithik hat um mehrere Kleidergrößen zugenommen! (Sein Arzt äußert sich besorgt.) Alle zwei Wochen bringt die Illustrierte „Filmfare“ ihre Leser auf den neuesten Stand. In freundlichem, manchmal besorgtem Plauderton unterrichtet sie über Fehltritte, Modesünden, Liebschaften. Die Bilderstrecken tun dem Götterstatus gut: Das Haar glänzt, die Augen leuchten. Möglich, dass jemand das Foto von Aishwarya ausschneidet und in einen Schrein stellt. Für fünfzig Rupien ist man dabei, am Rand des Kricketfelds, auf dem Filmset, sogar im Wohnzimmer. Muss auch so sein. Die Zeitschrift wirbt: „No one knows the stars like we do.“

Und wo stecken sie, die Stars? „Im vornehmen Stadtteil Bandra“, sagen die, die es wissen müssen. Etwa im Trident Bandra Kurla, einem Luxushotel, das erst jüngst in dem aufstrebenden Teil des Viertels eröffnet wurde. Die Stars kommen aus zwei Gründen. Sie wollen gediegen essen, zum Hauptgericht etwa Flaschenkürbis und Zwetschgenknödel, zum Nachtisch vielleicht Teigbällchen in Zuckersirup und Milcheis mit Kardamongeschmack. Und ein bisschen wollen sie auch gesehen werden. Der Kellner weist mit dem Kinn auf einen Tisch, an dem eine Frau und ein Mann die Köpfe zusammenstecken. Sie trägt eine rosa Baumwollbluse und einen silbernen Haarreif, er einen Kapuzenpullover und Bartstoppeln. Gut sehen sie aus. Glücklich auch. „Sie sind das neue Paar“, wispert der Kellner. Bei den Dreharbeiten zu einer Komödie hätten sie sich kürzlich kennengelernt, bei der Preisverleihung eines Magazins seien sie inzwischen gemeinsam aufgetaucht. Noch schützten sie „gute Freundschaft“ vor, doch wer glaube das schon? Über Bollywood kann sich in Bombay jeder fachkundig austauschen. Doch der Kellner bremst sich. Er hat ja noch das wahre Trumpf im Ärmel. Die Fotoaufnahmen. Zum Beispiel von John Abraham. Hier im Haus. Jetzt, in diesem Moment!

Eine Filmzeitschrift will den Schauspieler für eine Titelgeschichte ablichten. Fotografen mögen das Ambiente, das Parkett aus heller Eiche und die Möbel aus dunkler Walnuss in den Zimmern, den Boden aus Marmor und die Skulpturen aus Bronze im Foyer. Auch all die prächtigen Strelitzien mit ihren aufgeklapptem orange leuchtenden Blüten in den hohen Vasen machen viel her. Das wirkt modern, international – so inszenieren sie gerne Bollywoodhelden. Zu denen gehört John Abraham.

Ist der Bollywoodstar vielleicht der Poolwart?

Erst hat er mit einem ehrgeizigen Melodram Kritikerlob geerntet, dann mit einer schrillen Klamotte Besuchermassen angezogen. Die Werbekampagne für diesen Kassenhit verließ sich vor allem auf John Abrahams Bauchmuskeln: So elegant ist seit Burt Lancaster niemand mehr einem Meer entstiegen. Das alles wenigstens erzählt der Kellner – mit ansteckender Begeisterung. Dass wir den Namen John Abraham noch nie unserem Leben gehört haben, behalten wir für uns. Und weil wir nicht wissen, wie er aussieht, könnte man uns natürlich auch den freundlichen Poolwart vorführen. Oder einen der riesigen Kricketspieler, die gerade die fünfte Etage einnehmen.

Abraham posiert in der Präsidentensuite. Die liegt im obersten Stockwerk. Dorthin gelangt nur, wer einen Sonderaufzug nutzt und eine Sicherheitskarte besitzt. Da kann auch der Kellner nicht weiterhelfen. Aber das richtige Lächeln vor einem Vertrauten John Abrahams tut seinen Dienst. Wir steigen in den Lift und fahren in den elften Stock. Dann pochen wir an die Tür.

Ein Dutzend Menschen schwirrt durch die Suite. Einige schleppen Fotokoffer, andere Scheinwerfer. Auf dem Tisch liegt ein angebissenes Sandwich, auf dem Regal steht eine halbleere Wasserflasche. Dazwischen: John Abraham, verstrubbeltes Haar, olivfarbenes Hemd, unrasiertes Kinn. Er sagt: „Ich spreche nur ein wenig Deutsch.“ Vor zwei Jahrzehnten hat er vier Monate lang Grammatik gepaukt, weil er sich in eine Lehrerin aus Freiburg verliebt hatte – er wollte Eindruck schinden. Die eine Hand steckt in der Tasche, die andere malt in der Luft. Er erzählt wie die gewieften Stars, die bei David Letterman zu Gast sind und in fünfeinhalb Minuten dessen Hochachtung gewinnen wollen: in Anekdoten, dicht und ironisch. Kein Zweifel: ein Weltstar.

Ein Weltstar zudem, der sich zwischen anderen Weltstars bewegt. Vor drei Jahren war er bei der Oscar-Verleihung. Sein Film war für den Auslandspreis nominiert, genau wie die Werke der Regisseure Florian Henckel von Donnersmarck und Guillermo del Toro. Als der Deutsche gewann, sprang auch der Mexikaner auf. Er klatschte, drückte den Konkurrenten. Kaum jedoch trabte von Donnersmarck nach vorne, presste del Toro, immer noch lächelnd, zwischen den Zähnen hervor: „Son of a bitch.“ So erzählt es John Abraham. Mindestens so unterhaltsam wie die Sitznachbarn in Reihe H.

Erschienen in F.A.Z. am 27. Mai 2010

Fotos: Inka Wichmann