Zeig’ mir deinen Schreibtisch – und ich sage dir, wer du bist

Papierberge oder Hängeregister, Familienfoto oder Abschlussurkunde – unsere Arbeitsplätze verraten viel über uns. Manchmal mehr, als uns lieb ist.

Von Inka Wichmann

Thomas Mann schrieb unter den Augen einer Buddhastatue, Roald Dahl steckte die Beine in einen Schlafsack, Charles Darwin balancierte auf den Knien ein Holztablett. Oft ist der Arbeitsplatz eine Fundgrube an Anekdoten – im Falle berühmter Autoren für die interessierte Nachwelt, im Falle weniger prominenter Menschen für nicht minder neugierige Vorgesetzte. Viele Chefs ziehen Rückschlüsse vom Zustand des Schreibtischs auf Motivation, Methoden und Charakter. Vielleicht deutet ein geordneter Schreibtisch ja doch auf einen geordneten Geist hin? „Das mag Küchenpsychologie sein“, sagt Karriere-Experte Jochen Mai. Aber Küchenpsychologie mit einem wahren Kern.“

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Der eine Kollege heftet den „11-Freunde“-Kalender an die Pinnwand, die andere Kollegin lagert einen „Anti-Stress“-Entscheidungswürfel im Stiftebecher. Fast alle Menschen versuchen, persönliche Habseligkeiten an den Arbeitsplatz zu schmuggeln. Immerhin verbringen sie im Büro fast mehr Zeit als zu Hause. Grund genug, dort eine Lieblingstasse, eine Postkarte oder zumindest eine Handcreme neben die Tastatur zu rücken. Die Bürobewohner dürfen nur nicht vergessen, dass sie mit ihrem Arbeitsplatz – Papierberge oder Hängeregister, Familienfoto oder Abschlussurkunde – lauter kleine Botschaften senden. An die Kollegen, die Besucher – und natürlich die Vorgesetzten.

Hüfthohe Magazinstapel

„Auch Räume können nicht nicht kommunizieren“, sagt Jochen Mai ziemlich frei nach Paul Watzlawick.Sechs verschiedene Typen bevölkern die Büros. So viele Kategorien hat Mai in Anlehnung an die britische Verhaltenspsychologin Donna Dawson ausgemacht. Bei Typ eins fänden die Kollegen niemals ein halbes Dutzend Kaffeebecher zwischen hüfthohen Magazinstapeln. Nein, Typ eins räumt seinen Platz emsig auf: Die Schere liegt akkurat neben dem Locher, die Gummibänder stehen exakt neben den Heftklammern. Und doch ist es mit der Diagnose „Kontrollfreak“ nicht getan. „Hier empfiehlt sich jemand als Organisationstalent“, sagt Jochen Mai. „Er möchte gebraucht und beachtet werden.“

Typ zwei hätte gerne ein so ordentliches Büro wie Typ eins. Doch auch wenn er noch so viele Schubfächer beschriftet – die Hauspostumschläge häufen sich, ebenso die Visitenkarten, die Merkzettel, die Notizbücher. Trotzdem findet Typ zwei auch den kleinsten Zeitungsschnipsel verlässlich wieder. Die Kollegen schauen gerne bei ihm vorbei: Typ zwei ist liebenswert – und einfallsreich. „Bei keinem Brainstorming darf er fehlen“, sagt Jochen Mai. Typ drei hat ein ähnliches Büro: Auch er türmt die Akten, bis der Praktikant nicht mehr darüber hinweg gucken kann. Aber Typ drei stapelt hoch – er will für originell gehalten werden. „Schautisch“ nennt Mai diesen Schreibtisch.

Waffeletten für die Kollegen

Fotos von den Kindern, den Urlauben, dem Partner: All das hat Typ vier liebevoll neben einer Keksdose arrangiert. Eine solche „Gedenktafel“ (Jochen Mai) lässt verschiedene Schlussfolgerungen zu: Zum einen ist Typ vier recht aufgeschlossen – schließlich darf jeder Kollege mal in die Packung mit den Waffeletten greifen. Zum anderen ist Typ vier eher Familienmensch als Workaholic. Ganz anders Typ fünf: Was ihn umtreibt, weiß niemand. In seinem Büro herrscht die blanke Funktionalität. „Er trägt eine professionelle Maske“, sagt Mai. Mit seinem Arbeitsplatz repräsentiert Typ fünf sein Unternehmen, nicht seine Person. Nett ist er womöglich dennoch.

Bleibt nur noch Typ sechs. Dass er Mitarbeiter des Monats Mai 2007 war, erfahren alle Besucher sofort: Er hat die Urkunde wie alle anderen Auszeichnungen gerahmt. Auch die übrigen Trophäen versteckt er nicht in der Schublade, sondern räumt ihnen einen Ehrenplatz ein. Vielleicht steht hinter ihm im Regal außerdem „Schneller zum Erfolg“ in der Neuauflage neben einer zerfledderten Ausgabe von „Kunst des Verkaufs“. Keine Frage: Typ sechs brennt vor Ehrgeiz. Dafür möchte er Anerkennung. Wird ihm die vorenthalten, muss sein Büronachbar sich auf eine Eiszeit einstellen. „Dann schmollt er“, sagt Jochen Mai über den Inhaber des „Trophäen-Tischs“.

Freilich können nicht nur Vorgesetzte die Schreibtische ihrer Mitarbeiter inspizieren. Die Untergebenen sollten auch das Eckbüro interpretieren. Hängt an der Wand ein Ölporträt des Firmenpatriarchen oder ein Kunstdruck der Postmoderne? Gruppieren sich Gäste um einen hierarchisch-eckigen oder um einen egalitär-runden Besuchertisch? Steht „Fair führen“ oder „Kündigung von Unkündbaren“ im Bücherschrank? „Es müssen nicht immer gleich die Alarmglocken schrillen“, sagt Jochen Mai. „Wer allerdings solche Details bemerkt, erfährt viel über das Wesen seines Chefs.“ Und ein kleiner Wissensvorsprung hat noch nie geschadet.

Erschienen auf faz.net 2012

Foto: André Hengst/On Eyes Photography / Flickr CC Lizenz