Ein Leben im Fluss

Die „Hendrik-Jan“ fährt Rotterdam-Aschaffenburg, Aschaffenburg-Rotterdam: Das Frachtschiff muss der Mannschaft die Heimat ersetzen.

Von Inka Wichmann

 

Wenn William Alma den linken Ärmel hochkrempelt, lugt eine Schönheit hervor, die nicht viel mehr trägt als ein Paar hohe Stiefel. Zeigt er sein rechtes Handgelenk, sieht man die schottische Flagge vor einem großen roten Herzen. Und sobald er sich etwas vorbeugt, blitzt im Nacken eine F-förmige Tätowierung auf – das Wappen seines Lieblingsvereins Feyenoord Rotterdam. Alma ist Schotte, lebt in Holland und ist Matrose an Bord der „Hendrik-Jan“.

Es ist 3 Uhr, und die „Hendrik-Jan“, ein 110 Meter langes Frachtschiff, steuert auf Koblenz zu. Einige der 43 Container, die sich seit Höchst an Bord stapeln, müssen gleich verladen werden. „Gelöscht werden“ nennt William Alma das. Aber noch bleibt ein bisschen Zeit. Deshalb zieht sich der 37 Jahre alte Mann seine gelbe Mütze über und huscht hinaus in den Regen, Richtung Maschinenraum. Nur dort darf er rauchen. Alma steht zwischen Motor, Wassertank und einem alten Surfbrett – und inhaliert. Die Maschinen stampfen so laut, dass er Ohrenschützer tragen muss. Es riecht nach Diesel.

Alma kommt aus einem Dorf in der Nähe von Aberdeen, der rauen, schottischen Ölstadt. Das Land vermisst er. „Aber bleiben konnte ich da nicht“, sagt er. Er wollte nicht wie seine Freunde jeden Tag im selben Pub sitzen, wollte nicht wieder und wieder die gleichen Geschichten hören. Und die Armut, die wollte er schon gar nicht. Mit 15 Jahren hat er das erste Mal auf einem Schiff angeheuert. Er war der Jüngste an Bord des Frachters, mit dem er mehr als ein Jahr den Main und den Rhein entlangfuhr, hin und her zwischen Rotterdam und Aschaffenburg. Die gleiche Route wie jetzt. Damals hatte er eine feste Anstellung auf einem Schiff. Diesmal ist das anders: Alma ist „auf Ablöse“. Er bleibt nie lange bei einer Besatzung, auf der „Hendrik-Jan“ arbeitet er zum Beispiel nur zwei Wochen.

 

In Koblenz vertäut Alma die „Hendrik-Jan“. Dann muss er warten: Ein anderes Schiff hält länger am Kai als geplant. William Alma gießt sich heißen Kaffee ein, in den er Milchpulver und Zucker rührt. Er trinkt drei Tassen. Manchmal zieht er sein Handy aus der Hosentasche und guckt auf die Anzeige. Sein bester Freund wollte sich eigentlich melden. Der hat in Almas Dorf eine Kneipe direkt am Meer, und mit ihm kann er sich auch spätnachts noch unterhalten. Der Freund ruft alle drei Tage an. Nur heute lässt er nichts von sich hören.

Die Motoren springen an – die „Hendrik-Jan“ muss die Anlegestelle wechseln und wenige Meter entfernt festmachen. Wieder läuft der Matrose nach draußen, löst die Leinen und verknotet sie abermals. Rückkehr ins Steuerhaus. Noch mehr Kaffee. Noch mehr Warten darauf, dass die Güter für Antwerpen von Bord gehievt und die Waren für Rotterdam an Deck geschafft werden können. Um 4.30 Uhr klettert Alma endlich auf die 2,60 Meter hohen Container. An den Ecken setzt er Stecker ein. Wenn der Kran eine Box auf die andere schichtet, haften sie aneinander wie Legosteine. Sitzt ein Stecker zu locker, kann die Ladung über Bord rutschen, sitzt er zu fest, verhaken sich die Behälter. Nach eineinhalb Stunden ist der letzte Container verstaut, und Alma geht ins Bett, zumindest für ein, zwei Stunden.

Hansebild

Der Kapitän hält im Steuerhaus Wache. Hendrik-Jan van Dodewaard gehört das Schiff. Seine dunkelblonden Locken hat der Wind zerzaust – er ist auch auf die Container gekraxelt. Die eben an Bord genommenen Metallboxen stapeln sich jetzt in drei Lagen, und das Steuerhaus muss mit einem Knopfdruck in die Höhe geschoben werden, damit Hendrik-Jan van Dodewaard über die Fracht hinweggucken kann. Dreizehn Meter ist das Steuerhaus dann von der Wasseroberfläche entfernt. Noch ist es dunkel, und van Dodewaard braucht den Radarschirm. Der Kapitän mag die frühe Schicht. Wegen Junior. Junior ist sein fünf Jahre alter Sohn, der alle vierzehn Tage mit van Dodewaards Frau Marianne für eine Woche an Bord kommt. Am Morgen setzt Junior sich oft zu seinem Vater ins Steuerhaus, in eine Höhle aus Decken. Der weiß, dass dieses Ritual bedroht ist. Nicht nur, weil er mit der Playstation um Juniors Aufmerksamkeit wetteifern muss. Sondern auch, weil Junior bald zur Schule gehen wird. Seine Eltern sind immerzu mit ihrem Schiff unterwegs. Deshalb haben sie für Junior ein Internat ausgesucht. Marianne van Dodewaard glaubt aber, dass der Junge dafür noch zu klein ist. Jeden Abend schlüpft er zu seinen Eltern ins Bett. Die Sonne geht auf, es ist 7.30 Uhr. Die „Hendrik-Jan“ schippert an Bad Breisig vorbei. Wenn van Dodewaard aus seinem Steuerhaus blickt, sieht er ein Thermalhallenbad, einen Campingplatz und eine Hotelanlage, in der die ersten Lichter angehen.

William Alma kriecht aus seiner Koje. Sein bester Freund hat sich nicht gemeldet. Auf Schlaf muss man an Bord verzichten können, meint der Matrose. Das weiß er seit seinem ersten Hochseeschiff. Mit dem ist er erst nach Indien gefahren, hat dann alle fünf Kontinente bereist. Zwei Jahre dauerte es, bis er das erste Mal wieder in Schottland war. Heimweh hat er trotzdem nicht gehabt. Auch heute kennt er dieses Gefühl nicht. Beteuert er. „Nur Sehnsucht nach meinen Kindern hab‘ ich“, sagt er. Beide sieht er nicht oft. Das Mädchen ist sieben Jahre alt, der Junge vierzehn, und das Leben auf einem Schiff, das ist nichts für Kinder, findet die Mutter, mit der Alma nicht mehr zusammenlebt. Er starrt zu Boden, als er davon erzählt. Dann beißt er in einen zuckrigen Butterkeks. Richtiges Frühstück gibt es erst in Bonn. Um 9.30 Uhr.

In Bonn springt Alma von Bord. Er will bei einem kleinen Lebensmittelhändler Brötchen, Eis und Bratwürste kaufen – für seine Familie auf Zeit, die van Dodewaards. Zwischen Containertürmen und Kränen sucht er den Hafenausgang. Plötzlich steht er vor einem Zaun. Er war lange nicht hier. Alles hat sich verändert. Gerade als er umkehrt und den richtigen Weg einschlägt, klingelt sein Handy. Es ist sein bester Freund, der fragt, ob William Alma nicht doch nächstes Wochenende kommen möchte, zu einer großen Party in der Kneipe am Meer.

 

Erschienen in F.A.Z. am 8. März 2006

Foto: Izabela Reimers/Izabela.R / Flickr CC Lizenz