Millionen Vietnamesen träumen den Honda Dream, und Hanoi braust mit vollem Tempo voran. Herr Pham aber schaut zurück.
Von Inka Wichmann
Vier, drei, zwei zählt die Uhr an der Ampel. Als sie auf drei springt, brausen alle los. Spätestens. Dutzende Mofas knattern durch den Kreisverkehr, über die Einkaufsmeile, das Seeufer entlang. Der Schutzhelm rutscht. Die Tachometernadel pendelt sich auf 40 ein. Zu langsam, viel zu langsam, findet der Fahrer. Und schert aus dem Mopedschwarm aus. Während er beschleunigt, dreht er sich zum Pulk um, lachend. Staubflocken fliegen unter die Kontaktlinsen. Schneller, schneller. Erst als ein Bus auf ihn zusteuert, fädelt er sich wieder ein. Um dann vorbei an einem Geländewagen durch die nächste Lücke zu rutschen. Nur Furchtsame klammern sich mit beiden Händen am Vordermann fest. Die Übrigen zücken auf dem Rücksitz das Handy, herzen die Kinder oder halten die Einkäufe. Manchmal ist der Soziusplatz auch schon belegt. Zum Beispiel mit einem blauen Plastikrohr, in das eine halbe Garküche hineinpassen würde. Oder mit einem Laserdrucker, sorgfältig mit Paketband verschnürt. Wer in Hanoi lebt, will vorankommen.
Das Glück der Schildkröten
Herr Pham allerdings blickt zurück. Schaut auf den ockergelben Präsidentenpalast und die schmutziggraue Josephs-Kathedrale aus der Kolonialzeit, auf den verwunschenen Schildkrötenpavillon und den verwitterten Jadebergtempel zu Ehren des vietnamesischen Kaisers. Herr Pham ist Fremdenführer: Er lotst durch das Gassengewirr der Altstadt, er feilscht mit Rikschabesitzern, er erläutert Nationalheiligtümer. Zum Beispiel den Literaturtempel, der einst Nationalakademie war. Schulklassen pilgern vor den Abschlussarbeiten dorthin, in weißen Hemden und schwarzen Hosen. Sie wollen die Steinschildkröten berühren – das hebt den Notenschnitt. Die Schildkröten brächten Weisheit, heißt es. Und außerdem ein langes Leben. Also hocken sie sich vor die Statuen. Ein Junge krault die Stirn, ein Mädchen tätschelt die Schnauze. Herr Pham weiß jedoch, wie ein Glücksuchender die Schildkröte berühren muss. Mit beiden Händen streicht er über den Schildkrötenhals. Dann fährt er sich selbst durch das dichte, dunkle Haar.
Herr Pham hatte immer gute Noten. „Fast alle Jungen mussten nach dem 17. Geburtstag in den Krieg“, sagt er. Nur wer ausgezeichnete Zensuren hatte, erhielt ein Stipendium. Und durfte im sozialistischen Ausland studieren. Im Oktober 1972 verließ Herr Pham Hanoi. Zwei Monate später befahl der amerikanische Präsident Richard Nixon die sogenannten Weihnachtsbombardements: Zwischen dem 18. und dem 29. Dezember flogen amerikanische Piloten fast dreieinhalbtausend Einsätze. In Hanoi und Haiphong kamen zweitausend Menschen ums Leben. Herr Pham hatte währenddessen mit den anderen Stipendiaten die Grenze zu China erreicht, zu Fuß. Die meisten von ihnen stammten aus entlegenen Provinzen; viele hatten bislang weder einen Bahnhof noch eine Lokomotive gesehen. Das änderte sich nun: Zwei Wochen lang rumpelten sie im Zug Richtung DDR. Als sie in Leipzig eintrafen, gab es ein Hemd und einen Anzug; ihr Hab und Gut wurde verbrannt. In den ersten Tagen lernten sie, eine Pyjamajacke zu tragen, ein Seifenstück zu benutzen und eine Bibliothek zu besuchen.
Feuerspeiende Drachen in den Fluten
Gedränge im Thang Long, einem Traditionshaus am Hoan-Kiem-See. Wasserpuppentheater. Sobald das Licht erlischt, richten die Blicke sich nach vorne. Das Wasserbassin schimmert grün, die Pagode dahinter glänzt rot. Am Beckenrand greifen Musiker nach den Instrumenten. Zwei Sängerinnen – eine mit Trommel, eine mit Fächer, beide mit Blüten im Haar – beugen sich zum Mikrofon. Unter dem Bambusvorhang schnellen Lackfiguren an Holzstäben hervor: Reisbauern, die Setzlinge pflanzen, Wasserbüffel, die Pflüge ziehen, Angler, die Köder auswerfen. Und drei Boote, die durch die Wogen rasen! Ihre Ruderer wetteifern, bis ihnen die Farbe von den Armen platzt. Wellen schwappen, Wasser spritzt. Aus den Fluten schießen drei goldene feuerspeiende Drachen. Als sich eine Holzpuppe mit Lendenschurz in den Funkenregen stürzt, kichern ganze Sitzreihen. Die Sängerin mit dem Fächer zwinkert den Lachenden zu. Warum die vietnamesische Hälfte des Publikums losprustet, ahnt der westliche Teil der Zuschauer nicht.
Seine Lieblingslehrerin in Ost-Berlin zog Kohlrabi im Garten. Wenn Herr Pham dort vorbeischaute, aßen sie zusammen Gemüse. Außerdem hatte die nette Lehrerin eine schöne Tochter, die einmal seinen neuen Pullover bewunderte. Gemeinsam kauften sie ihr das gleiche Modell. Herr Pham lacht, als er an den Garten, die Tochter und den Pullover denkt. Weniger gern erinnert er sich an seine andere Deutschlehrerin: Sie trug ihm für einen Aufsatz ein Mangelhaft ein. Nach all der Mühe. „Ich war so enttäuscht“, sagt Herr Pham. Er wollte gar nicht mehr lernen. Das war gefährlich. Wer sich in Deutsch und Literatur, in Chemie und Physik nicht hervortat, fiel durch die Prüfungen. Und wer die nicht bewältigte, durfte sich nicht an der Humboldt-Universität in Berlin einschreiben. Sondern musste zurück nach Vietnam. Dort hatte das Politbüro in Hanoi gerade entschieden, den Krieg weiterzuführen, bis zu einem Sieg über die südvietnamesischen Streitkräfte. Herr Pham griff wieder zu den Büchern, paukte Grammatikregeln und Matheformeln. Er bestand.
Es lebe hoch die Sozialistische Republik Vietnam“, übersetzt Herr Pham am Ba-Dinh-Platz. „Der große Ho Chi Minh lebt ewig in unserem Volk.“ Die beiden Sätze stehen in riesigen roten Lettern neben dem Mausoleum, in dem der Leichnam des Revolutionärs in einem Glassarkophag liegt. Die Sonne brennt auf die Betonplatten, bloß die Lautsprechermasten werfen Schatten. Alle Straßenzüge der Stadt haben Lautsprecher. Zweimal am Tag springen sie für dreißig Minuten an. Um 7 Uhr und 18 Uhr 30. Eine Volkskomitee-Stimme rattert dann herunter, dass die Hausbewohner die Nationalflagge hissen sollen, wer gestorben ist und wer eingezogen wird. Die Stimme quäkt ziemlich laut; Umstehende können ihr eigenes Wort nicht verstehen. Manchmal schleudern sie Kiesel gegen die Masten, bis die Stimme verstummt. Das ist hier nicht vonnöten. Die fünfzehn Lautsprecher schweigen. Herr Pham kann von Ho Chi Minh berichten. „Er war der beste Vietnamese“, sagt er.
Lichtenberg, Köpitzer Straße 24, Aufgang 22 – Herr Pham kennt die Ost-Berliner Adresse bis heute. Dort hat er gewohnt, während er an der Universität Strafrecht studierte. Das war nicht leicht. Ein Professor etwa kam aus Österreich. Er sprach mit solch starkem Dialekt, dass Herr Pham kein Wort verstand. Das hat ihn nicht davon abgehalten, sich in den Stoff zu vertiefen. Er wurde Klassenbester. Nicht allein Ehrgeiz stachelte ihn an; seine Botschaft kontrollierte seine Noten. Er habe sich sehr angestrengt, mehr als die Studenten heute, die außerdem das Internet verdorben habe, meint er. Einmal aber unternahm er eine kleine Ferienreise. Mit Freunden fuhr er nach Halle, um dort zu angeln und zu zelten. Dass die Mücken alle furchtbar zerstochen haben, weiß er noch. Trotzdem zucken seine Mundwinkel nach oben. Als er nach Vietnam zurückkehrte, begleiteten ihn alle Bekannten zum Bahnhof. „Das waren schwere Minuten“, sagt Herr Pham. Im Jahr 1977 war das. Zwei Jahre zuvor ging der Krieg zu Ende: Hanois Truppen hatten Saigon eingenommen. Berlin hat er seither nicht wiedergesehen.
In den Andenkenläden am Ba-Dinh-Platz grüßt Ho Chi Minh. Er lächelt von goldenen Tellern, winkt aus goldenen Rahmen. Eine Lackplatte zeigt, wie er ein Mädchen herzt, auf einem Porzellanteller ist zu sehen, wie er in einem Bambusstuhl sitzt, einen Stapel von Dokumenten vor sich. Nicht weit von dem wuchtigen Mausoleum entfernt steht ein schmächtiges Pfahlhaus zwischen Mangobäumen und Sumpfzypressen. Dort lebte Ho Chi Minh Ende der fünfziger Jahre. Besucherschlangen ziehen vom offenen Erdgeschoss zum oberen Stockwerk, vorbei an der Liege mit dem Rohrgeflecht, dem rostigen Aquarium, in dem drei Goldfische schwimmen, dem Telefon mit der Drehscheibe. Herr Pham faltet ein DIN-A4-Blatt auseinander. Das Testament Ho Chi Minhs. Die wichtigsten Stellen trägt Herr Pham laut vor. Es geht um Marx und Lenin, um ein geeintes und friedliches Vietnam. „Ho Chi Minh hat eigentlich keine Fehler gemacht“, findet Herr Pham. Dann fallen ihm doch zwei Laster ein: „Er war ein starker Raucher. Und er hatte keine Frau.“ Zumindest offiziell.
Herr Pham hingegen ist verheiratet. Seine Frau ist im Jahr der Schlange geboren, genau wie er selbst. Von dieser Konstellation raten Astrologen eigentlich ab. Das bekümmert Herrn Pham nicht. Er glaubt nicht an Horoskope, sondern an die Wissenschaft – Astrologen wiederum entgegnen: Gerade diese Eigenschaft sei typisch für Menschen mit diesem Tierzeichen. Solche Leute lösten Probleme mit reiner Logik und wachem Verstand. Reine Logik, wacher Verstand: Damit kann sich Herr Pham anfreunden. Er arbeitet nicht nur als Reiseleiter, sondern zunehmend auch in einer Forschungseinrichtung. „Institut für Staat und Recht“ steht auf seiner Visitenkarte. Herr Pham ist nun siebenundfünfzig Jahre alt. Er meint: „Wer fünfundfünfzig Jahre alt wird, kauft sich in Vietnam eigentlich einen Sarg.“ Diese Anschaffung will er aber noch ein bisschen vertagen. Er achtet lieber auf seine Gesundheit. Hundefleisch in Shrimpssoße isst er zum Beispiel nicht. „Cholera“, sagt er bloß. Vorsichtshalber treibt er allmorgendlich außerdem etwas Frühsport.
Kein Moped hupt. Es ist fünf Uhr morgens. Vor den Garküchen kauern ein paar Frühaufsteher auf Plastikhockern; sie schlürfen Nudelsuppe und schieben Klebreis auf Bananenblätter. Sonst ist kaum jemand zu sehen. Bis zum Hoan-Kiem-See. Menschen in gemusterten Baumwollhemden, Rippenshirts und Laufschuhen eilen zum Ufer. Aus einem Ghettoblaster plärren Aerobic-Takte. Der eine macht Klimmzüge an einer Werbetafel, der andere Liegestütz auf einer Treppenstufe, der nächste Aufschwung an einer Reckstange. Die gehört zu einer kleinen Trainingsanlage auf dem Gehweg. Dort stemmen zwei Dutzend Männer abwechselnd Gewichte. Zwei Schritte weiter lässt eine ältere Dame – weiße Strähnen durchziehen das geknotete Haar – erst die Arme, dann die Füße, dann die Hüften kreisen; eine ganze Gruppe Gleichgesinnter tut es ihr nach. Ein Mann kehrt ihnen den Rücken zu. Er sitzt im Morgenlicht auf der Ufermauer und schaut auf den Schildkrötenpavillon in der Seemitte. Wer in Hanoi lebt, will manchmal innehalten.
Erschienen in F.A.Z. am 15. Juli 2010
Fotos: Inka Wichmann