Die ganze Welt in einem Viertel

In der Lower East Side in New York haben sich Hunderttausende Einwanderer niedergelassen. Vor allem osteuropäische Juden kamen – und brachten Rezepte aus der Heimat mit. Ob Zimtkuchen, Pistaziennougat oder Essiggurken – niemand verlässt das Viertel mit leerem Einkaufskorb.

Von Inka Wichmann

Essen spendet Trost. Ein Pfannkuchen mit Kondensmilch, ein Butterbrot mit Gänsebrust, ein Kartoffelkloß mit Rotkohl – das füllt den Magen, das nährt die Seele. Vor allem, wenn das Heimweh nagt. Nach Zuhause haben sich in der Lower East Side in Manhattan schon viele gesehnt: Hunderttausende Einwanderer haben dort einen Neuanfang gewagt. Um 1900 war es das Stadtviertel mit der höchsten Bevölkerungsdichte überhaupt. Die ganze Welt versammelte sich in diesem Viertel: Deutsche brauten Bier für die Gartenwirtschaften, Russen brieten Blinýs für die Teesalons, Italiener buken Pizzas für den Straßenverkauf – jede Immigrantengruppe erweiterte die Speisekarte. Vor allem osteuropäische Juden prägten die 450 Blocks der Lower East Side. Wer nun die Straßen entlang schlendert, vorbei an all den Häusern mit Feuertreppen und Wasserbehältern, stößt auf ihre Spuren. Geschäfte verkaufen gefilte Fisch und gehackte Leber, Bagel mit Frischkäse und Latkes mit Sauerrahm. Zugegeben: Nicht alle Speisen lassen sich im Koffer verstauen. Doch ein Stückchen Halvah – eine Süßigkeit aus Zucker, Sirup und Honig – passt immer noch in eine Ritze. Die Einwanderer kamen nach Amerika mit europäischen Rezepten, nun fahren die Touristen zurück nach Europa mit amerikanischen Delikatessen.

Geleebrombeeren und Apfelringe

Piazza_Die Welt im Viertel_Inka Wichmann_web

Ein Farbfoto klebt an der Glasvitrine mit den Erdnüssen, Mandelsplittern und Cashewkernen: Ein Kind blinzelt in die Kamera. Heute ist der Schuljunge ein Mittzwanziger – und wird nun Ladenbesitzer. Mitchell Cohen soll bald Economy Candy an der Rivington Street übernehmen. Sein Großvater hat das Süßwarengeschäft 1937 gegründet. Seither stehen die Cohens hinter dem Tresen, schneiden Pistaziennougat, wiegen Minzbonbons und schaufeln Ingwerstücke. Der Familienbetrieb stützt sich auf Stammkundschaft: Einige kommen seit 60, andere schon seit 70 Jahren. „Wir haben Süßigkeiten aus der Alten Welt und aus früheren Zeiten“, sagt ein Verkäufer, der selbst schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert bei Economy Candy arbeitet. Aus Metallkörben quellen Geleebrombeeren und Apfelringe, in Pappkartons lagern Annabelle´s Big Hunk und McCraw´s Taffy. Ein Schwerpunkt aber ist die Schokolade. Es gibt Fußbälle und Tennisbälle, Rosen und Münzen, allesamt aus Vollmilchschokolade gegossen und in Silberpapier gewickelt. Wer aus dem Viertel fortzieht, muss auf die Fülle nicht verzichten. Economy Candy schickt den Kunden die Waren innerhalb von den Vereinigten Staaten hinterher. Im Winter schnüren die Süßwarenhändler 100 Pakete am Tag.

Seit 1937
Economy Candy
108-Rivington St.
New York, N.Y. 10002
www.economycandy.com

Teigklöße und Rotkohl

Piazza_Die Welt im Viertel_2_Inka Wichmann_web

Die Teigklöße rumpeln im Speiseaufzug aus der Backstube in den Verkaufsraum. „Der Lift ist 100 Jahre alt“, erzählt ein Stammkunde, der an einem der Resopaltische daneben sitzt. Er wartet dort auf einen Knish, auf einen Knödel, der mit Kartoffeln, Rotkohl oder Spinat gefüllt ist. Vor 100 Jahren konnte ein Rabbiner – Yonah Schimmel – seinen Lebensunterhalt nicht mehr allein mit Hebräischunterricht bestreiten. Er beschloss deshalb, Teigklöße anzurühren und aus einem Handkarren feilzubieten. Der Erfolg ließ nicht allzu lange auf sich warten: Der Rabbi konnte The Original Yonah Schimmel Knishery an der East Houston Street eröffnen. Dort hat der Laden noch heute seinen Sitz. Auch am Rezept haben die Nachkommen – sie führen das Geschäft nun in der sechsten Generation – nicht gerüttelt: Ein Knish wird gebacken, nicht frittiert. Schließlich soll er der Gesundheit der Stammkunden zuträglich sein. „A Knish A Day Keeps The Doctor Away“, verkündet eine Farbkopie. Ein anderer DINA-4-Zettel fordert dazu auf, auch die Verwandtschaft zu verköstigen: „Send Knishes to Your Mother in Florida.“ Am Schaufenster vergilben zahlreiche Zeitungsausschnitte: Schon Barbara Streisand, Francis Ford Coppola und Woody Allen haben in einen Knish gebissen.

Seit 1910
The Original Yonah Schimmel Knishery
137 East Houston Street
New York, N.Y. 10002
www.knishery.com

Räucherhering und Hefekuchen

Piazza_Die Welt im Viertel_3_Inka Wichmann_web

Joel Russ ereiferte sich bisweilen: Erschienen ihm Käufer allzu wählerisch, warf er sie kurzerhand aus dem Geschäft. Die Leute wussten seinen hervorragenden Hering einfach nicht zu würdigen! Die Kunden gingen mit leerem Einkaufskorb, der Händler blieb mit leerer Registrierkasse. Keine sehr zufriedenstellende Situation. Joel Russ schob deshalb seine drei Töchter Hattie, Ida und Anne hinter den Verkaufstresen. Dann ließ er das Ladenschild ändern: Russ & Daughters stand fortan über der Tür. Die Käufer standen Schlange. Insbesondere drei Kunden dankten Russ die Entscheidung: Alle drei Frauen trafen ihre späteren Männer im Laden an der East Houston Street. Doch die Kunden kamen nicht allein wegen der schönen Töchter – der gute Fisch lockte sie. Niemand konnte etwa den Lachs dünner raspeln. Die Familie stockte das Sortiment immer weiter auf. Erst kamen weitere Räucherspezialitäten wie Stör, Forelle und Karpfen hinzu, dann auch Süßigkeiten wie Schokoladenkekse, Trockenfrüchte und Hefekuchen. Das Geschäft sei Teil des kulturellen Erbes von New York, lobte die ehrwürdige Smithsonian Institution. Und nicht nur das: Russ & Daughters tauchte schon auf in Martha Stewarts Sendung und in Oprah Winfreys Magazin, in der Stadtgespräch-Rubrik im New Yorker und im Herbstmode-Katalog von J.Crew.

Seit 1914
Russ & Daughters
179 East Houston Street
New York, N.Y. 10002
www.russanddaughters.com

Gewürzgurken und Rinderbrust

Piazza_Die Welt im Viertel_4_Inka Wichmann_web

Die Leuchtreklamen und die Fotowände, die Gewürzgurken und die Pastramischeiben – alles wirkt vertraut. Das ist kein Zufall: Jeder Kinogänger hat Katz´s Delicatessen schon einmal einen Besuch abgestattet. An der Theke hat Johnny Depp in „Donnie Brasco“ gelehnt, am Tisch hat Meg Ryan in „Harry und Sally“ gesessen. Zu solcher Bekanntheit hat Katz´s Delicatessen es nicht ohne Grund gebracht: Der Deli an der Houston Street rühmt sich, die besten Pastrami-Sandwiches der Stadt zu schmieren. Zwischen den Brotscheiben türmt sich das gewürzte, geräucherte und gedämpfte Rindfleisch, manchmal mit einem Klecks Senf. Wer in der Schlange vor dem Tresen wartet, kann beobachten, wie das Messer durch das Fleisch säbelt, hackt, fliegt. Bislang sind vier amerikanische Präsidenten bei Katz´s eingekehrt: Franklin D. Roosevelt, Jimmy Carter, Ronald Reagan und Bill Clinton. Vom Letztgenannten heißt es, er habe zwei Hotdogs, ein Pastrami-Sandwich und eine Portion Pommes Frites verschlungen. Ein solches Menü lässt sich Daheimgebliebenen nur schwer mitbringen. Geeigneter scheinen „Cinnamon Rugelach“ und „Cinnamon Babka“, Zimtrollen und Zimtkuchen. Der Verkäufer schickt außerdem rasch noch einen Kollegen ins Lager. Niemand dürfe Katz´s ohne eine Salami verlassen, findet er.

Seit 1888:
Katz´s Delicatessen of Houston Street, Inc.
205 Houston Street
(Corner of Ludlow Street)
New York, N.Y. 10002
www.katzdeli.com

Erschienen in F.A.Z. 2010

Fotos: Inka Wichmann