Viele Menschen packen lieber den Rollkoffer als die Umzugskartons – in Deutschland gehört Fernpendeln zum Berufsalltag.
Von Inka Wichmann
Morgens um 7.42 Uhr am Bahnhof Köln Messe/Deutz: Der ICE 527 fährt ein. Frauen in Kostümen und Männer in Anzügen hetzen mit Rollkoffern und Aktentaschen Gleis 11 entlang. In den ICE 527 steigen Menschen, die im Kölner Agnesviertel wohnen und im Frankfurter Bankenviertel arbeiten. Bis sie das Gepäck wieder aus der Ablage wuchten müssen, bleibt ihnen eine Stunde und vier Minuten. Die einen blättern in der Tagszeitung, die anderen klappen den Bildschirm auf. Wer den Gang entlang läuft, schaut auf Word-Dokumente, Power-Point-Präsentationen und Excel-Tabellen. Nur manchmal lässt ein Blick auf eine amerikanische Serie erhaschen. Der ICE 527 ist kein Reisezug, er ist ein Pendlerzug.
Die Definition ist eindeutig: Fernpendler brauchen von der Haustür bis zum Schreibtisch mehr als eine Stunde – einen Anfahrtsweg, den sie mindestens viermal in der Woche antreten. Ihre Zahl ist – anders als etwa die Menge der Wochenendbeziehungen – nicht gestiegen. Sie hat sich bei 4 Prozent der Erwerbstätigen, nun ja, eingependelt. Was sich allerdings verändert hat, ist die Entfernung. Menschen legen immer weitere Strecken zurück. Sie rasen von Hannover oder Hamburg nach Berlin, von Köln oder Stuttgart nach Frankfurt. „Je besser die Verkehrsbedingungen, desto größer die Pendelbereitschaft“, sagt Soziologe Norbert Schneider vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB).
Warum kein Umzug?
Doch die berühmte schwarze „Bahncard 100“ ist nur ein Punkt. Norbert Schneider hat neben der Verkehrsinfrastruktur noch drei weitere Gründe ausgemacht, aus denen einige Menschen vor einem Umzug zurückschrecken. „Der Arbeitsmarkt wandelt sich“, sagt er. Viele Erwerbstätige unterschreiben befristete Verträge, wechseln häufiger das Unternehmen, folgen dem bisherigen Betrieb an einen neuen Standort. Für eine Anstellung als „flexibler und engagierter Field Account Manager mit einem hohen Maß an Gestaltungsmöglichkeiten und einer Befristung auf zwei Jahre“ ordert nicht jeder Arbeitnehmer sogleich die Umzugskartons. Das kann er allerdings auch gar nicht.
Denn – Ursache zwei – auch Familie und Beziehungen haben sich verändert. Meist üben beide Partner einen Beruf aus – und ein Umzug würde den Verlust des Jobs nach sich ziehen. Wer Kinder bekommt, möchte – trotz Altbau, Stuckdecke und Flügeltüren – oft die Drei-Zimmer-Wohnung neben dem Frühstückscafé in der Innenstadt verlassen. „Wandel der Wohnpräferenzen“ nennt Norbert Schneider dieses Phänomen. „Elternschaft generiert steigenden Flächenbedarf“, sagt er. In anderen Worten: Die Familie zieht hinaus ins Grüne. Der Wohnsitz liegt vor, der Arbeitsplatz in der Stadt – ein dritter Grund, aus dem zahlreiche Menschen pendeln.
Stressspitzen wie bei Kampfpiloten
Jene Entscheidung bleibt aber nicht folgenlos. Wer zur Arbeit pendelt, gefährdet seine Gesundheit – das haben Telefoninterviews ergeben, die ein Team um Norbert Schneider mit 7.200 Menschen aus Europa geführt hat. Pendler leiden eher unter Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Rückenschmerzen. Auch Schlafstörungen treten auf. Die Symptome können alle Pendler betreffen – ganz gleich, ob sie sich selbst hinter das Autosteuer klemmen oder aber im Großraumabteil sitzen. Wer befürchten muss, sich wegen eines unterwarteten Staus oder eines verpassten Anschlusses zu verspäten, ist zudem größter Anspannung ausgesetzt: „Die Stressspitzen sind oftmals höher als bei Kampfpiloten im Kriegseinsatz.“
Pendler setzen nicht nur ihre Gesundheit, sondern darüber hinaus ihr Privatleben aufs Spiel. Der Fußballverein trifft sich um 18 Uhr – solche Termine können Pendler oft nicht erreichen. Doch nicht allein die Sozialkontakte, auch die Familienbeziehungen müssen Belastungsproben bestehen. Der Pendler erscheint abwesend, der Partner fühlt sich alleinerziehend. In der Freizeitgestaltung driften die Vorlieben auseinander: Nach einer Woche im Zug sehnt sich der Pendler nach mehr Ruhe, der Partner hingegen wünscht sich etwas Elan. So brodeln rasch Konflikte. Gibt es einen Ausweg? Norbert Schneider empfiehlt das Homeoffice: „Wer einen Tag in der Woche zu Hause arbeitet, reduziert den Stress deutlich.“
Was aber all den Pendlern zwischen Köln und Frankfurt Mut machen könnte: Menschen, die sich freiwillig für das Fernpendeln entschieden haben, empfinden den Druck weniger stark. Da ist zum Beispiel Kristina Heinz, 33 Jahre alt. Sie fährt seit eineinhalb Jahren jeden Tag von Stuttgart nach Frankfurt. Für beide Städte gibt es einen triftigen Grund: In Stuttgart wohnt ihr Lebenspartner, in Frankfurt sitzt die Bethmann Bank, ihr Arbeitgeber. Dort ist sie in der Unternehmenskommunikation beschäftigt – ein fordernder Job, den sie nicht missen möchte. Auf der Hinfahrt arbeitet sie am Firmenlaptop, auf der Rückfahrt liest sie auch mal einen Kriminalroman: „Hauptsache, ich nehme die Zeit im Zug nicht als verlorene Zeit wahr.“
Erschienen auf faz.net 2012