Der Sisyphosarbeiter

Der Stein muss auf den Gipfel: Ronny Mildner, Sisyphos in Wollpullover und Karohemd, kümmert sich um Jugendliche in Deutschlands erstem Internat für Schulverweigerer. Er bringt sie nicht nur zur Schule, er bringt ihnen Struktur bei. Wenn sie ihn lassen.

Von Inka Wichmann

Ronny Mildner dreht den Schlüssel zweimal im Schloss. Er sperrt die Speisekammer ab. Sonst schleichen die Jugendlichen nach Mitternacht hinein, schlürfen Vollmilch aus der Tüte, löffeln Johannisbeermarmelade aus dem Glas und schaben Chesterkäse aus der Folie. Noch nicht einmal die beiden Gurken würden sie verschonen, die kalten Tomatenravioli aus der Konservenbüchse auch nicht. Dabei haben sie sich schon beim Abendbrot dreimal mehr auf den Teller geschaufelt, als sie hinunterschlingen können. Sie glauben, dass sie nicht genug bekommen werden. Weil sie bisher noch nie genug bekommen haben. Mildner will ihnen beibringen, dass es für alle reicht. Aber erst mal muss er die Vorräte retten, damit sich jeder beim Frühstück Milch über die Cornflakes schütten kann.

Darko, Kevin und Michelle* – so heißen drei der sechs Jugendlichen, die Ronny Mildner betreut. Er arbeitet als Erzieher im ersten Internat für Schulverweigerer. Das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk Lazarus hat es für Teenager zwischen zwölf und fünfzehn Jahren eingerichtet. Es liegt in Neukölln, dem Berliner Viertel, das in wenigen Touristenführern, aber in vielen Polizeimeldungen auftaucht. Etliche Kinder dort setzen sich morgens vor die Spielkonsolen im Einkaufszentrum, nicht vor das Matheheft im Klassenzimmer. Den Eltern ist es oft egal. Mildner nicht. Er will, dass Darko, Kevin und Michelle ihren Schulabschluss machen. Deshalb heftet er sich jeden Morgen an ihre Fersen: Er folgt ihnen von der Haustür bis zum Lehrerpult. Der Schulweg dauert keine drei Minuten.

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Darko, Kevin und Michelle brauchen einen festgezurrten Tagesablauf. Ronny Mildner und seine vier Kollegen haben deshalb ein paar Regeln aufgestellt. Alle müssen um 6.30 Uhr aufstehen und um 21 Uhr einschlafen, alle müssen sich zu Mittagessen und Abendbrot um den großen Holztisch versammeln, alle müssen den Freizeitsport mitmachen und Aufräumdienste übernehmen. Manchmal will Darko nicht so früh aus den Federn, manchmal will Kevin keinen Gemüseeintopf, manchmal will Michelle den Flur nicht wischen. Ronny Mildner ist Sisyphos. Ein Sisyphos in Wollpullover und Karohemd. Er wuchtet einen Stein den Berg hinauf. Wenn er den Gipfel fast erklommen hat, entgleitet ihm der Stein. Und kullert den Hang hinab bis ins Tal.

Ronny Mildner stellt sich vor seine sechs. Er will nicht, dass Journalisten ihren Alltag begleiten. Er will, dass sie in Ruhe zu sich selbst finden können. Aber von dem, was war, erzählt er so lebendig, als wäre man selbst dabei. Von Darko zum Beispiel.

Hinauf auf den Berg

Darko tritt gegen die Wand. Dreckspuren von seiner Profilsohle kleben an der Rauhfasertapete. Er tritt noch mal zu. Er ist sich total sicher, dass Kevin ihm seinen Superman geklaut hat. Er hatte ihn ja schon im Verdacht, als seine Duschgelflasche plötzlich halb leer war. Am liebsten würde er ihm eine reinhauen. Auch weil er ihn so schräg anguckt. Darko stürmt los. Kurz bevor er ihn erwischt, wirft Ronny Mildner sich vor ihn. Dort harrt Mildner aus, bis Darko alle Kraft aus den Gliedern weicht. „Wer einen Fehler gemacht hat, muss ihn auch ausräumen“, sagt Mildner bloß. Dann schickt er Darko und Kevin in verschiedene Zimmer. Später findet Darko das Comicbuch auf seinem Nachttisch. Vielleicht bringt er Kevin doch am nächsten Tag zum Fußball, um ihn ein bisschen anzufeuern.

Nach dem Fußballtraining haben Darko und die anderen eine Stunde Ausgang. In einer Stunde kommen sie nicht weit, höchstens zu „Moe’s American Pizza“ ein paar Häuser die Straße hinunter. Dort kostet die billigste Pizza mit viel Käse drei Euro. Ob das Taschengeld dafür reicht? Darko – zwölf Jahre alt – kriegt zweimal in der Woche drei Euro; die Vierzehnjährigen hingegen erhalten zweimal fünf Euro. Sie kramen in ihren Taschen. Pleite. Also hocken sie sich an die Haltestelle „Britzer Garten“. Sie wollen nirgendwohin fahren, bloß abhängen. Fast das ganze Geld geht für Zigaretten drauf. Zur Schlafenszeit raucht Darko heimlich am Zimmerfenster. Ronny Mildner riecht, wie der Zigarettenqualm durch die Türritze kriecht. „Schluss jetzt“, ruft er. Darko motzt. Dann drückt er die Kippe aus.

Fast auf dem Gipfel

Auch von Kevin kann Ronny Mildner erzählen. „Diese Scheißviecher sind zum Kotzen!“, hatte Kevin gebrüllt, bevor die Gruppe nach Brandenburg aufbrach. Es hieß: Wer Lust hat, darf sich dort dann auf ein Pferd setzen. Kevin hatte keine Lust. Er wetterte gegen die Scheißviecher. Der Fünfzehnjährige wütete, wenn er morgens den Löffel in die Müslischale tunkte, wenn er mittags die Gabel im Spaghettiberg versenkte, wenn er abends mit dem Messer die Käsescheibe aufspießte. „Scheißviecher“, nölte er. Ronny Mildner übersetzte die Schimpftirade im Stillen. Eigentlich sagte Kevin: Er ist noch nie aufs Land gefahren, hat noch nie eine Koppel betreten, Heu gerochen, ein Pferd gestreichelt. Vor Neuem hat er Angst. Überraschungen sind in seinem Leben fast immer böse Überraschungen gewesen. Und überhaupt: Pferde sind bestimmt verdammt groß.

Das Pferd schüttelt die Mähne, stampft mit den Hufen, bläht die Nüstern. Kevin schluckt. Wirklich verdammt groß, das Scheißviech. Aber nicht bösartig: Das Pferd schnappt nicht, sondern schnaubt bloß. Sogar die Zwölfjährigen schwingen sich in den Sattel. „Ich auch“, sagt Kevin, bevor er einen Fuß in den Steigbügel schiebt. Er beißt die Zähne zusammen, klammert sich an die Zügel, presst die Knie gegen das Fell. Das Pferd will ihn weder abschütteln noch zerquetschen. Eine Runde, zwei Runden. Kevins Mundwinkel zucken. Ronny Mildner weiß: So sieht Glück aus. Mehr geht nicht. Kevin springt auf den Boden, federt zur Gruppe und schreit aus voller Lunge: „Aber noch mal steige ich nicht drauf!“ Ronny Mildner übersetzt. Im Grunde ruft Kevin: Er will nächste Woche wiederkommen.

Hinab ins Tal

Herbstferien. Die Jugendlichen verbringen eine ganze Woche mit den Erziehern. Ronny Mildner hat eine Gruppenfahrt geplant, es geht nach Stralsund, an die Ostsee. Michelle und die anderen werden zum ersten Mal über das Meer schauen. Auch in Berlin kennen sie bloß Neukölln, ihren Kiez. Dass der Reichstag eine Kuppel hat, weiß die fünfzehn Jahre alte Michelle nur, weil über dem Fernseher im Wohnzimmer ein Kunstplakat hängt, eine Skizze von Christo und Jeanne-Claude. Die Erzieher haben das Poster an die Wand gepinnt. Wenn Michelle sonst einen Ausflug unternimmt, hüpft sie in die U7 Richtung Spandau. Am Hermannplatz steigt sie aus. Von dort stromert sie zur Hasenheide, wo die Dealer ihren Stoff verschachern und die Junkies ihre Spritzen setzen.

Jetzt also ein richtiger Ausflug, eine kleine Reise geradezu. Drei Stunden braust der Bus gen Norden. Die Gruppe schaukelt sich gegenseitig hoch. Michelle ist die Wortführerin. Ronny Mildner hat das schon oft beobachtet: Michelle ist grober, lauter, rücksichtsloser als andere Mädchen – sie ist morgens nicht ins Klassenzimmer, sondern ins Einkaufszentrum gegangen, sie hat nachmittags nicht an ihrem Schreibtisch, sondern an Bushaltestellen gesessen. Seither glaubt sie, Respekt und Härte gehörten zusammen. Am Meer aber wird sie weich. Sie saugt die Luft ein, steckt die Zehen in den Sand, sammelt sogar Muscheln. Ein Glück, dass die Kumpels vom Kiez sie nicht beobachten. Besser ein paar derbe Sprüche reißen. Das hören Einheimische. Sie zischen: „Ausländerschlampe.“

Im Winter schrumpft die Gruppe. Von den sechs Metallbetten sind bloß noch drei belegt. Michelle und zwei andere Mädchen kommen nach dem Ausgang nicht mehr oft in ihre Zweibettzimmer zurück. Sie schlafen lieber bei irgendwelchen Kumpels, die Ronny Mildner nicht kennt. Schließlich müssen die Mädchen das Internat verlassen – das Jugendamt schlägt ihnen andere Hilfseinrichtungen vor. Jahrelang ist ihnen Verachtung entgegengeschlagen. Das kann Ronny Mildner nicht ausgleichen, zumindest nicht so schnell. Eigentlich eine herbe Niederlage. Doch Mildner lässt sich nichts anmerken. Darko und Kevin immerhin sammeln Erfolgserlebnisse: Darko tritt in einen Musikverein ein, Kevin tritt ein Schulpraktikum an. Bei „Penny“ räumt er die Regale ein, acht Stunden am Tag. Die Chefin lobt seinen Einsatz. „Ganz schön anstrengend. Scheißtag“, sagt Kevin dann. Ronny Mildner übersetzt. Insgeheim denkt Kevin: Er hat Grund, stolz zu sein.

Ronny Mildner drückt den Rücken durch. Der Stein muss auf den Gipfel.

* Namen frei erfunden

Erschienen in F.A.Z. am 28. Januar 2010

Foto: Ingolf/IngolfBLN / Flickr CC Lizenz