Der Kaiseradler kommt reingekachelt

Und mit etwas Glück balzt eine Großtrappe vor der Linse. Allerhand komische Vögel: mit Ornithologen am Neusiedler See.

Von Inka Wichmann

An Kurt Kirchbergers dunkler Fleecejacke kleben helle Tierhaare. Esel umringen ihn, stupsen gegen seine Brust, drängen sich an seinen Rücken. Einer reißt das Maul auf, so weit er kann. Die übrigen schnauben und stampfen, wedeln mit den Schwänzen und zucken mit den Ohren. Wie alle Esel. Nur: Sie sind nicht eselgrau, sondern schwanenweiß. Wenn nicht gerade Matsch im Fell klebt. Sie blicken aus hellblauen Augen, schlagen dann die farblosen Wimpern nieder, kokett geradezu. Sie sind – fast – die letzten ihrer Art; eine Rasse, die betuchte Gutsbesitzer vor Jahrhunderten gezüchtet haben: Barockesel.

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Kirchberger – ebenfalls mit weißer Mähne, dazu ein weißer Schnauzer – tätschelt alle Hälse, die sich ihm entgegenrecken. Bevor er durch den Matsch davonstapft, hakt er am Gatter den Draht ein. Die Tiere sind keine Wildesel. Sie sollen sich nicht davonstehlen können. Die Esel sind wie der Park, in dem sie leben. Es gibt sie nur in Österreich und Ungarn. Kurt Kirchberger wacht über dreihundert Quadratkilometer. Er leitet den Nationalpark Neusiedler See, der sich über Österreich und Ungarn erstreckt. Zu seinem Zuständigkeitsgebiet gehören Salzlacken und Schilfgürtel, Mähwiesen und Hutweiden. Und sehr viele Tiere.

Die Barockesel sind keine Müßiggänger. Sie haben eine Aufgabe: Sie grasen und schaffen damit ebenso wie die Wasserbüffel, Graurinder und Wildpferde des Nationalparks eine Steppenlandschaft. Die Weiden waren gemeinsam mit der Viehzucht vor Jahrzehnten verschwunden, waren Ackerschollen und Weingärten geworden oder verwildert und verschilft. Eine feindliche Umgebung für empfindliche Wiesenbrüter. Die schätzen offene und weite Flächen, Kräuter und Gräser, sie verabscheuen Bäume und Büsche, Marder und Füchse. Sie brauchen Steppen – dort können sie Nester bauen, Feinden entwischen. Also hat Kurt Kirchberger Rinderherden angesiedelt. Und Barockesel. Das war nicht leicht. In Ungarn hatte er die Eselrasse aufgestöbert. Doch ein Fohlen stürzte in einen Brunnen, eine Stute hatte etliche Gebrechen. Und so dauerte es eine ganze Weile, bis Kirchberger endlich sechs Esel im Park hatte. Nun steigt die Zahl. Schon bald rechnet Kirchberger wieder mit Nachwuchs. Eine der Stuten hat einen arg gewölbten Bauch.

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Ornithologen hinter Heuballen

Kurt Kirchberger lenkt Teamsitzungen, prüft Forschungsarbeiten, hält Grußworte. Doch lieber als drinnen ist er draußen, steht eben nicht gern neben einem Videoprojektor, sondern steuert durch den Nationalpark. So wie jetzt. Im Vorbeifahren sieht er durch die Windschutzscheibe sechs Entenküken, die den Eltern hinterherschwimmen. „Höchstens zwei Tage alt“, sagt er. Sein Ziel ist der Ausguck an der Pferdekoppel. Dort kauern drei Generationen Ornithologen hinter Heuballen. Ausgerüstet mit Handbuch, Fernglas und Digitalkamera, lugen sie zum Steppensee. Wellen schwappen, Halme wiegen sich im Wind. Über das Wasser könnte ein Stelzenläufer huschen, aus dem Schilf könnte ein Seidenreiher staksen. Solche Vögel wollen die Vogelkundler festhalten. Wenn nichts dazwischenkommt. „Anton, nicht in den Sumpf!“, ruft die zweite Generation. „Auch nicht in den See!“, ergänzt die erste Generation. Und so hüpft die dritte Generation bloß auf die Wiese. Die drei Generationen verbringen, wie Ornithologen gerne sagen, den Tag im Feld.

So ein Tag im Feld beginnt sehr früh. Der Erste hat um 5 Uhr 40 eine Nachtigall erspäht, der Zweite um 6 Uhr einen Seeregenpfeifer, der Dritte um 8 Uhr 30 einen Fischadler. Anschließend sitzen die Vogelkundler in Illmitz im Nationalparkzentrum auf Holzbänken, fachsimpeln und stärken sich mit Graurindgulasch oder Wasserbüffelwurst, Welschriesling und Zweigelt, Apfelstrudel und Schokoschnitten. Endlich Gleichgesinnte. Wo siedelt die Uferschnepfe? Wie klingt die Rohrdommel? Wer etwas auf sich hält, kann jeden Taucher am Bürzel ausmachen. Selbst wenn sich das Gefieder halb unter der Wasseroberfläche verbirgt, schlimmer noch: sich nur im Gegenlicht zeigt. Die Fleißigsten haben viertausend Stunden lang Großtrappen beobachtet, die Besten haben mindestens dreihundert Vogelarten gesehen. Mit solchen Zahlen kann man nicht in jeder Kaffeeküche Eindruck schinden. Hier schon. Hier sagt man Sätze wie: „Und wenn dann der Kaiseradler im Morgenlicht reingekachelt kommt, dann geht mir wirklich die Pumpe.“ Und die Übrigen nicken.

Der Tierhunger der Stadtmenschen

Viele stopfen sich die Artenliste des Nationalparks in den Rucksack. Die Broschüre verzeichnet 341 Taucher, Kraniche, Schwalben. Sie verrät, welche Vogelarten sich zu welcher Jahreszeit am Neusiedler See aufhalten. Seltene Spezies erhalten hellgrüne, häufige Exemplare dunkelgrüne Kästchen. Nichts gegen die Lachmöwe. Doch so schön sie ihr Federkleid auch putzt: Sie trägt keinem Ornithologen Rekorde ein. Dunkelgrüne Quadrate von Januar bis Dezember. Ganz anders der Krauskopfpelikan. Der lässt sich mit seinem silberweißen Gefieder und seinem orangeroten Kehlsack höchstens im Mai, August und September blicken. Und auch dann nur mit viel Glück. Also dreimal hellgrün. Wer ihn entdeckt, muss das sogleich im Informationszentrum dokumentieren, das heißt, mit Fundort (auf der Rinderkoppel) und Uhrzeit (kurz nach sieben) auf der Pinnwand eintragen. Und ein dickes Ausrufezeichen daneben malen. „Stadtmenschen haben einen solchen Tierhunger“, sagt Kurt Kirchberger.

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Wenn er am Wegesrand steht, winkt er einem Traktorfahrer, wenn er im Hotelfoyer wartet, prostet er den Honoratioren zu: Kurt Kirchberger muss mit jedem Burgenländer irgendwann schon einmal geplauscht haben. Dabei stammt er aus dem Innvirtel in Oberösterreich; dort wurde er 1951 geboren. Ins Burgenland kam er Mitte der Siebziger, ursprünglich zum Reiten, Mitte der Neunziger blieb er zum Arbeiten. Damals wurde er, Tierarzt und Naturschützer, Direktor des Nationalparks. Seither hat Kirchberger Wurzeln geschlagen. Überall tun sich Verbindungen auf: Er schießt die Fasane, die Friedl im „Gasthaus zum fröhlichen Arbeiter“ schmort, er wacht über die Rinder, die Martin in der „Fleischerei Karlo“ schlachtet. Und in der Weinstube der Brüder Peter und Christoph lagert das Hirschgeweih eines gemeinsamen Jagdausflugs. Es scheint: Jeder kennt jeden. Wien liegt nur eine Dreiviertelstunde entfernt. Doch manchmal ist die Stadt sehr weit weg.

Kurt Kirchberger muss nicht in die Welt ziehen. Die Welt kommt zu ihm. Er hat sogar Wladimir Putin durch den Nationalpark gelotst, vorbei an salzigen Lacken und sumpfigen Wiesen. Auch mit dem schwedischen König und dem japanischen Kronprinzen ist er durch die Steppe gewandert. Der Schwede gilt als eifriger Elchjäger, der Japaner als kundiger Vogelbeobachter. Beide brauchen kein Bestimmungsbuch aufzuklappen, um in einem weißen Federball eine balzende Großtrappe zu erkennen. So viel Expertise weiß Kirchberger zu schätzen. Trotzdem behagen ihm solche Spaziergänge nicht immer: „Es ist schwierig mit den Hochwohlgeborenen“. Nicht nur, dass pflichtbewusste Sicherheitsbeamte dann das ganze Schutzgebiet durchforsten. So ein König bestimmt auch gern den Weg. Wenn er einen Pfad entlangstürmt, kann man ihn schlecht am Arm zupfen, geschweige denn zurückbeordern. Man muss ihm hinterhertrotten. Und versäumt womöglich, wie der Turmfalke im Rüttelflug einer Feldmaus auflauert.

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Kurt Kirchberger bläst in die Trillerpfeife. Beim ersten Ton wetzen zwei Hunde herbei: Rosie und Dickie. Sie erwarten ihn beim Informationszentrum, tollen nun über den Parkplatz und springen auf die Ladefläche seines Wagens. Manchmal begleiten sie ihn auf die Pirsch, immer folgen sie ihm nach Hause. Dort lauscht Kirchberger, wie sie mit den Nachbarshunden auf der ungarischen Seite um die Wette heulen. Was er am Burgenland am meisten liebt? Er zögert nicht. Er nennt nicht die Jagdausflüge mit Peter und Christoph, nicht die Prominentenbesuche von König und Kronprinz, noch nicht einmal die Steppenrinderwurst von Karlo und den Paprikafasan von Friedl. Trotz der guten Soße. Nein, zuerst fallen ihm die Geräusche ein. Das Quaken, Zwitschern und Schnattern. Wenn er am Abend vor der Tür sitzt, hört er die Laubfrösche, die Sumpfohreulen, die Kolbenenten. Und natürlich Rosie und Dickie. Anderswo wollte er gar nicht mehr sein.

Erschienen in F.A.Z. am 12. April 2012

Fotos: Inka Wichmann