Der Gatekeeper

Hubert Coonen ist seit 33 Jahren beim CHIO Aachen im Einsatz. Im Hauptstadion öffnet er das Gatter – er kommt den besten Pferden der Welt ganz nahe. Bislang ist ihm nur ein Tier ausgebüchst.

Von Inka Wichmann

 

Für seinen Platz zahlt Hubert Coonen manchmal mit nassen Schuhen. Dafür steht er dann auf heiligem Rasen. Auf einer sorgsam getrimmten Grünfläche, die außer Parcoursbauern, Hindernisrichtern und Spitzenreitern kein Mensch betreten darf. Er sieht aus nächster Nähe, wie die besten Pferde der Welt über Hürden und Gräben fliegen, vorbei an Hecken und Rabatten galoppieren. Er hört, wie die Hufe aufsetzen, wie das Publikum raunt, wie die Reiter jubeln. Aber wenn er einen Schirm aufklappte, könnte er die Pferde verschrecken. Also platscht bisweilen der Sommerregen auf seinen Plastikponcho. Das Wasser sickert dann in die Strümpfe, schwappt in die Taschen. „Aber man will es nicht anders haben“, sagt Coonen, der lieber von „man“ als von „ich“ spricht. Seinen Platz würde er nie verlassen. Sein Platz ist das Gatter im Hauptstadion vom Pferdesportereignis CHIO Aachen, ausgeschrieben: Concours Hippique International Officiel.

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Teppichböden werden ausgerollt, Zeltplanen ebenso – auf dem Turniergelände herrscht Trubel. Einige Tage vor Beginn zeigt Hubert Coonen seinen Platz, den Ausritt, wie das Gatter offiziell heißt. Dort, am Richterturm, wartet er für gewöhnlich mit seinem Freund Herrmann Messering. Sobald das Pferd das letzte Hindernis bewältigt hat, müssen beide die Holztore aufstemmen, so rasch sie nur können. Denn das Tier drängt es in den Stall. Nur Unerfahrene würden sich nun in der Eile den Daumen klemmen. Und Erfahrung sammeln die Ordner mit jeder Saison: Bis zum 30. Juni 2013 finden 20 Springturniere statt. Nur einmal ist ein Pferd entwischt: E.T. hatte seinen Reiter Hugo Simon abgeworfen. Und ließ mit einem großen Satz das Gatter hinter sich. So erzählt es Coonen. Er trägt einen gestreiften Pullover, darunter ein weißes Hemd, fast so weiß wie seine gezwirbelten Schnurrbartspitzen. Während des Reitturniers sieht man ihn in der Uniform der Helfer, mit gelber Krawatte, grüner Jacke, dunkler Hose und Strohhut.

Hubert Coonen wurde zwar 1944 in Belgien geboren. Im Alter von eineinhalb Jahren aber kehrte er nach Aachen zurück und ist seither auch nicht weggezogen. Dass er in die CHIO-Familie hineinwuchs, hat er seinem Vater zu verdanken: Als er ein junger Mann war, hatte der gehört, dass händeringend Ordner gesucht wurden. Erst bezog Coonen gemeinsam mit seinem Bruder einen Posten am Prominentenzelt. „Kein Hotel konnte schöner sein“, sagt Coonen. „Vom Feinsten war es.“ Dort bestaunte er eine Baronin, die ihm Gummibärchen schenkte, dort traf er einen Lebemann, der sich vor seiner Ehefrau versteckte. Aufregend war’s. Trotzdem zog es ihn fort. An den Ausritt. „Da bin ich hautnah dabei. Und muss nicht bezahlen.“ Nach fünf, sechs Jahren hörte er, dass ein Platz frei werden solle. Also hob er die Hand. Und wieder legte sein Vater ein gutes Wort für ihn ein.

Hubert Coonen hat 1200 Kollegen. Stewards prüfen an den Pferden die Gebisse und Bandagen, Fahrer steuern Reiter zu den Hotels und Bahnhöfen. Die meisten Mitarbeiter aber sind – wie Coonen – als Ordner beschäftigt: 325 kontrollieren für eine kleine Aufwandsentschädigung die Eingänge auf den Tribünen und an den Zelten, auf den Parkplätzen und an den Zufahrtsstraßen. Auch dort ist Coonen vor und nach Turnierbeginn zu finden. „Wir müssen ausgeglichen sein, aufmerksam, freundlich“, sagt Coonen. Doch selbst wenn man noch so gut mit Menschen kann – an einer Bedingung ist nicht zu rütteln: Man darf seinen 70. Geburtstag noch nicht gefeiert haben. Hubert Coonen ist 68 Jahre alt, seit 33 Jahren ist er schon dabei. „Vielleicht müssen wir den Ausweis fälschen.“

Schwäche für das Drum und Dran

Er hat noch nie ans Aufhören gedacht. „Man fiebert auf den CHIO hin“, sagt Hubert Coonen, während er durch das Hauptstadion geht, wo neben den Zuschauerrängen noch Baumstümpfe, Windmühlen und Fachwerkhäuser lagern – Hindernisse, über die die Pferde später springen. Er hat eine Schwäche für das Drum und Dran, wie er es nennt. Zum Drum und Dran rechnet er die Wortwechsel mit Spitzenreitern wie Marcus Ehning: „Man kennt sich.“ Er fragt nach den Pferden, nach den Kindern, nach der Gesundheit. Wie er es schaffe, so fidel zu sein, hat er sich einst bei Springlegende Hans Günter Winkler erkundigt. „Lass die Ärzte reden, was sie wollen. Lebe einfach“, habe der geantwortet. Freilich plaudert er nicht nur mit den Berühmtheiten, sondern auch mit dem Stammpublikum. „Fehlt einer, fragt man: Ist er krank? Kann er nicht?“

Einmal steckte sein Bein in Gips. 1977 muss das gewesen sein. Sonst hat Hubert Coonen keinen Tag am Gatter versäumt. Hochzeiten, Geburtstage, Kindstaufen – er würde sämtliche Einladungen ausschlagen, die einem Vereinskerl wie ihm sonst in den Briefkasten flattern. „Das wissen die Leute aber auch.“ Während des Turniers bekommt ihn noch nicht einmal seine Frau tags zu Gesicht, setzt er noch nicht einmal einen Fuß in seinen Garten: Dann ist er drei Wochen lang von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends auf dem Turniergelände unterwegs. Mindestens. Wenn die Pferde bei Flutlicht bis in die Nachtstunden springen, harrt auch er nach Mitternacht neben dem Richterturm aus. Höchstens für ein Gulasch im Mitarbeiterzelt bleibt dann Zeit. Anschließend kann er sich kaum mehr auf den Beinen halten. „Hauptsache, meine Frau steht hinter mir.“

Das Reiten und die Familie gehören zusammen. Als sein Sohn im rebellischen Teenageralter war – „Er muss 13 Jahre alt gewesen sein“ -, pflegte er heimlich ein Pferd in der Soers, einem Feuchtgebiet, das zum Aachener Stadtteil Laurensberg zählt. Pferdesport? Dieses Hobby sollte der Junge nicht im Verborgenen betreiben müssen. Erst liehen, dann kauften sie ein Pferd, erzählt Hubert Coonen auf der verwaisten Mercedes-Benz-Tribüne, nicht weit von seinem Gatter. Seine Frau kletterte in den Sattel, er ging in den Garten. „So kann es nicht weitergehen: Wir leben uns auseinander!“, stellten sie fest. Also ritten sie beide. Während seine Frau die Dressur übte, liebte er das Springen. Kleinere Turniere hat er sogar selbst bestritten. Hürden bis zu einem Meter hat er gemeistert, schätzt er. Am schönsten aber war es in Feld und Wald. Bei den Fuchsjagden.

Urgestein von der Soers

Wenn Hubert Coonen über das Turniergelände läuft, grüßt er die Telefontechniker, die Reinigungskräfte und die Zeltbauer. Die Kollegen schätzen ihn: „Er ist ein richtiger Oocher. Er hat immer einen Witz auf den Lippen“, sagt Harald Zillekens, der auf einem Rasenmäher sitzt – allein die Grünfläche im Hauptstadion muss alle zwei, drei Tage gestutzt werden. „Er ist ein bisschen direkt: Wenn man etwas falsch gemacht hat, kriegt man das sofort gesagt.“ Er muss es wissen: Er ist zwischen Hubert Coonens Kniekehlen groß geworden. Seit 1989 kennt Coonen auch Horst Peters, einen Mann in kariertem Hemd und blauer Jeans, der im Polizeiwagen über das Gelände kurvt. Sie haben schon zusammengearbeitet, als Coonen noch im Hauptberuf Ordner für die Fußballmannschaft Alemannia Aachen war: „Er ist das Urgestein von der Soers“, sagt Peters.

Die unvergesslichsten Augenblicke aber erlebte er nicht neben, sondern auf dem Rasen. Davon berichtet Hubert Coonen später am heimischen Glastisch auf der Ledercouch. Aus der Schrankwand zieht er mehr und mehr Fotos hervor, die einen braunen Hengst mit Blesse zeigen: Timago, meist Timmy genannt, sein Pferd. Auf einem Bild ist Hubert Coonen mit blütenweißen Handschuhen zu sehen, mit denen er die französische Flagge hält. Dreimal ist Coonen mit seinem Pferd beim berühmten Aachener Abschied der Nationen als Fahnenträger mitgeritten. Zu den Klängen von „Muss i denn“ winkte das Publikum dem Gespann mit Taschentüchern. Solche Momente graben sich in das Gedächtnis. Mehr noch sogar als der Tag, als Hubert Coonen Wladimir Klitschko mitteilte, wie sehr er ihn bewundert.

Erschienen in F.A.S. am 23.Juni 2013

Foto: Geerd-Olaf Freyer/YaYapas / Flickr CC Lizenz