Das Überlebensmobil

Erhard Wallbott liefert in seinem rollenden Supermarkt Gemüse, Schokolade und Erotikmagazine in 48 Dörfer.

Von Inka Wichmann

Wetteraukreis. Erhard Wallbott hört viel. Er weiß, wer Bluthochdruck hat, wer keinen Zucker verträgt und wer ins Krankenhaus muss. Ihm erzählen die Leute, wenn eine Nachbarin in die nächstgrößere Stadt zieht, zwei Dorfbewohner in Streit geraten sind und dass auf dem Geburtstagsfest gestern 40 Gäste waren. Und er kann ziemlich genau sagen, wie viel Päckchen Kirschpralinen, Rosinenstuten und Tütensuppe die meisten in ihren Küchenschränken verstaut haben. Erhard Wallbott fährt mit einem rollenden Supermarkt über Land.

Das „Frischemobil“ ruckelt über eine geflickte Straße in der Wetterau, vorbei an Äckern und Hochsitzen. Die Tachometernadel zeigt auf 70. Schachteln rappeln in den Regalen, Glasflaschen schlagen aneinander, Frühlingsprimeln vibrieren. Vor die Lüftung hat Erhard Wallbott ein Frotteehandtuch gehängt, damit der Wind nicht durch die Ritzen pfeift. Trotzdem ist es kalt, und er trägt einen gefütterten Parka und eine Schiebermütze. Wallbott hustet, und die grauen Schnurrbarthaare zittern ein wenig. 110 Kilometer liegen vor ihm, 40 Kunden wird er an diesem Tag in acht Dörfern beliefern. Unterwegs isst er Wurstbrote und trinkt koffeinfreien Kaffee aus der Thermoskanne. Eine Frühstückspause macht er nicht. „Dafür bleibt keine Zeit. Ich darf mich nicht verspäten“, sagt er. Denn die Einkäufer warten auf ihn. Sie stehen hinter Gardinen und an Straßenecken.

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Das Dörfchen Ulfa ist Erhard Wallbotts erste Station. Er kommt an einem Fachwerkhaus mit leerem Schaufenster vorbei. Ein schmutzigweißes Rollo ist heruntergezogen. „Das war einmal der Lebensmittelladen“, sagt er. Jetzt hängt dort nur noch ein Zigarettenautomat. Wallbott hält vor einem Hof, in dem sich Sperrmüll stapelt. Die Kundin, die hier wohnt, kann wegen einer schmerzenden Hüfte nicht bis zum Wagen laufen und die drei Stufen in den kleinen Verkaufsraum hinaufklettern. Sie reicht Erhard Wallbott ihre Einkaufsliste, er trägt wenig später den Warenkorb mit ihrer Lieblingsschokolade in die Küche und stellt ihn neben dem Holzofen ab. Am Küchenschrank klebt ein Blatt, auf dem in dicken Buchstaben steht, wie viel Mark ein Euro sind. „Eigentlich würde ich gerne wieder einmal selbst einkaufen, nach Herzenslust. Manchmal macht meine Tochter das mit mir“, sagt die Frau mit den weißen Locken. Aber ihre Tochter lebt nicht in Ulfa. Sie lebt in Frankfurt.

Seine Kunden rufen ihn Erhard, und er nennt sie Elfriede, Hedwig oder Heinz. Viele von ihnen kennt Erhard Wallbott seit mehr als vierzehn Jahren. Denn so lange kommt der 56 Jahre alte Mann mit seinem „Frischemobil“ in ihre Dörfer. Dort haben die letzten Gemischtwarenläden vor langer Zeit geschlossen, weil ihre Inhaber zu alt wurden – und ihre Kunden auch. Wenn Wallbott hört, dass ein Tante-Emma-Geschäft in der Wetterau zumacht, bittet er die Besitzer um eine Liste der Käufer. Bei denen meldet er sich dann und kündigt das „Frischemobil“ an. In Ulfa, Langd, Villingen, Weickartshain, Harbach, Hattenrod, Albach und Oppenrod war das so. Und auch in 40 anderen Dörfern.

Die Sprühsahne fehlt. Eine Frau in hellblauem Kittel und Hausschuhen sucht zwischen den Joghurtpaletten, Puddingbechern und Milchpaketen nach der Büchse. Kann sie aber unter den dreihundert Produkten nicht finden. Erhard Wallbott notiert ihren Wunsch in seinem dicken Kalender. Da stehen schon Scheuermittel, Zartbitterschokolade, Multivitaminsaft, Eisbein und Kartoffelpüree. Das nächste Mal wird er alles mitbringen. Das nächste Mal ist in einer Woche. Oder in zweien.

In Höhe einer Bankfiliale springt Erhard Wallbott vom Vordersitz. Er will einen 50-Euro-Schein gegen Münzen tauschen. Die meisten Orte haben keine Bank mehr, deshalb muss Wallbott sich jetzt mit Wechselgeld ausrüsten. Früher hätten die Leute bei ihr im Haushaltswarenladen Geld abgehoben, erzählt eine Frau aus Weickartshain. Als ihr Mann starb, hat sie das Geschäft aufgegeben. „Und mit der Landwirtschaft ist auch Schluss.“ Während sie das sagt, steckt Erhard Wallbott ihrem Sohn für elf Euro vier Erotikmagazine zu, die er zwischen den Schaumküssen und dem Hundefutter verborgen hat.

„Isst du denn kein Buttermilchdessert mehr?“ fragt Wallbott eine Kundin in Hattenrod auf plattdeutsch. „Ist ja auch ein bisschen sauer, gell.“ Das „gell“ hängt er an die meisten Sätze an. Dann erkundigt er sich, was Franz macht und wo Mariechen hingezogen ist. Wallbott spricht sehr laut. Franz geht es nicht gut, und Mariechen wohnt jetzt im Nachbarort und nicht mehr bei ihrem Sohn, erfährt er. „Ach ja“, seufzt Wallbott und rechnet ein paar Eukalyptusbonbons ab. Als er die Schiebetür zum Verkaufsraum an der nächsten Haltestelle öffnet, sagt eine Frau: „Hier kommt das Überlebensmobil.“

Erschienen in F.A.Z. am 1. April 2006

Foto: André Hengst/On Eye Photography / Flickr CC Lizenz