Wem gehört die Wildnis? Den Menschen oder den Tieren? In Kenia streitet man heftig darüber, vergiftet Raubkatzen, findet aber auch immer wieder Lösungen – zum Beispiel im Shaba-Nationalpark.
Von Inka Wichmann
Grün steht für Peter. Wer eine grasgrüne Plastikkarte erhalten hat, soll sich Peter anschließen, dem Mann mit dem rasierten Schädel, der dunklen Brille und dem lauten Lachen. Peter bringt Touristen mit seiner 5Y-SLA, einer Cessna mit dreizehn Plätzen, quer durch Kenia. Am Wilson Airport am Stadtrand von Nairobi warten Amerikaner, Deutsche, Italiener, darunter einige Mädchen mit Hennablüten auf den Zehen. Mit ihren Karten in Gelb, Schwarz und Blau fächeln sie sich Luft zu. Der Flugplan verzeichnet Mombasa, Lamu und Amboseli. Peter aber will das Shaba National Reserve ansteuern, ein Naturschutzgebiet nördlich des Mount Kenya. Der Flug soll ungefähr eineinhalb Stunden dauern. Falls jemand noch ein paar Schokoladenriegel oder auch Rasierwasser, einen Tropenhut und Postkarten braucht, kann er sich in dem kleinen Laden neben dem Rollfeld versorgen. Dort liegt außerdem ein abgegriffener Bildband im Regal. Vom Titelfoto lächeln Barack und Michelle Obama, er mit roter Krawatte, sie mit grünen Handschuhen.
Zwischen den Wolken der Mount Kenya
Peter klopft auf den Nachbarsitz. Ein Passagier soll es sich auf dem Copilotenplatz bequem machen, sonst passen nicht alle Touristen in die Cessna. Am Armaturenbrett kleben Notizzettel: „Hier ziehen, um die Bordelektronik zu kühlen“, heißt es neben einem Hebel. „Hier nicht ziehen, wenn es regnet“, neben einem anderen Griff. Peter gibt eine Sicherheitseinweisung. „Wir haben vier Notausgänge: zwei vorne, zwei hinten. Sie lassen sich leicht öffnen“, sagt er, zurrt den Anschnallgurt fest und holpert auf die Startbahn. Die Lüftung pfeift, der Propeller surrt. Peter schwebt über Wellblechhütten, die sich an Bahngleise drängen. Nairobi bleibt zurück. Zwischen den Wolken ragt schroff der Gipfel des Mount Kenya auf. Peter ist mit der Flughöhe aber nicht zufrieden: „Wie viele Leute habe ich bloß mitgenommen? Ihr seid viel zu schwer!“ Die Schulterklappen mit den Kapitänsstreifen beben. Unter der 5Y-SLA erstrecken sich grüne Flächen und braune Linien, Felder und Wälder, Pisten und Flüsse. Peter nähert sich Mount Shaba und beginnt mit dem Landeanflug.
Wie Elefantenbabys staksen, wie Büffelherden trampeln – das wollen Hunderttausende alljährlich in Ostafrika sehen, am liebsten in Kenia. Denn das Land gilt seit dem Friedensschluss vor knapp drei Jahren wieder als Ruhepol in einer Gefahrenregion. Und seine Rolle als Pionier im Tierschutz ist ohnehin unbestritten; in Kenia gibt es mehr als vierzig Nationalparks. Einer davon ist das Shaba National Reserve. Wildaufseher haben gleich neben der Einfahrt ein Blechschild an einen Holzpfahl genagelt. Dort kann jeder Besucher die zehn unumstößlichen Parkgesetze nachlesen. Drücke weder auf die Hupe noch aufs Gas, verlasse weder den Wagen noch die Straße. Außerdem: Tiere haben Vorrang. Immer. Dieses Gebot allerdings sät Zwietracht. Denn es fehlt den Kenianern an Land. Nur ein Bruchteil der Fläche eignet sich für Viehzucht oder Landwirtschaft. Viele Nomadenstämme haben ihr Weideland an Nationalparks verloren, an Gebiete, die nun den Tieren und den Touristen vorbehalten sind. Doch man versucht, den Zwist zu entschärfen, indem man die Bevölkerung ein Auskommen im Nationalpark finden lässt, zum Beispiel als Wildhüter. So wie John.
John bremst. Im Schatten einer Flötenakazie liegt eine Löwin. Auch als der Wagen heranrollt, rührt sie sich nicht. Nur das rechte Ohr zuckt. Reifenspuren durchziehen die Erde, Ameisennester schaukeln im Wind. Sonst nichts. Weder ein Rudel noch ein Junges lassen sich blicken. „Soziale Phobie“, sagt John. Er ist seit knapp drei Jahren als Wildhüter im Shaba National Reserve beschäftigt – mit dem Tierschutz kann er mehr Geld verdienen als mit dem Hirseanbau. Schon lange beobachtet er die Löwin. Früh verlor sie ihre Familie, die wahrscheinlich dem Gift der Farmer zum Opfer fiel. Die Löwin schloss sich keinem Rudel an, sondern streifte einsam durch die Ebene. Ihre Artgenossen jagen zu zweit, oft auch zu viert. Nicht so die Löwin. Sie hetzte ihre Opfer allein. Und tötete in einem Monat zwei Giraffen. Schließlich fand sie einen Gefährten und bekam ein Junges. Während sie den Gazellen, Antilopen und Gnus auflauerte, ließ sie den Nachwuchs in einem Versteck zurück. Nach einem der Beutezüge war das Löwenkind verschwunden. Die Mutter suchte und suchte. Vergeblich. John lässt den Motor an. Die Löwin hebt nun die Lider und leckt sich die Tatzen.
John rumpelt durch die Fahrrinne. Der rote Staub setzt sich auf seine Pilotenbrille, seine Schirmmütze, seinen Poloshirtkragen. Am Straßenrand ragt ein Elefantenschädel auf. John tritt noch einmal auf das Gaspedal. Zweige schlagen gegen das Metall, Steine springen gegen den Rumpf. Mit vierzig Stundenkilometern brettert er über die Ruckelpiste, vorbei an einer Zebrafamilie, drei Warzenschweinen und einer Büffelherde. Die Sonne steht tief. Er hat es eilig, denn er will noch vor Einbruch der Dunkelheit den Ausguck erreichen, an dem seine Kollegen ein paar Bierflaschen kaltgestellt haben.
Manchmal ist die Wildnis nicht leicht zu verkraften
Doch die Sonne sinkt rasch, der Himmel glüht orange. Als John neben den Klappstühlen, den Erdnüssen und der Kühltasche mit dem Bier hält, dämmert es. Kürzlich habe er Löwen beobachtet, die einen Büffel rissen, sagt John. Er sah, wie die Löwen das Fleisch verschlangen, hörte, wie die Knochen brachen, roch, wie die Gedärme hervorquollen. Manchmal sei die Wildnis nicht leicht zu verkraften.
Der König der Tiere herrscht nicht mehr über sein Reich. Seit geraumer Zeit schrumpft die Zahl der Löwen. In Kenia leben inzwischen nur noch einige hundert Raubkatzen in Freiheit. Bedroht werden sie von Pfeil und Bogen, Gift und Gewehr. Es sind nicht allein die Wilderer, die ihnen nachstellen. Es sind auch die Hirten, Farmer und Züchter. Am Rande der Parks prallen Mensch und Tier oft aufeinander. Manche Löwen schleichen um die Zäune, pirschen sich an die Dörfer, reißen dort Schafe. Um ihr Vieh gebracht, schwören die Besitzer Rache und versetzen Kamelkadaver mit Pflanzenschutzmitteln. Das Fleisch lockt die Löwen an, die Löwen fressen das Gift, das Gift tötet die Löwen. Sie verenden mit gelähmten Gliedern und blau verfärbtem Speichel. Die Wildhüter pochen auf den Naturschutz, die Viehzüchter sprechen von Notwehr. Hier ringen die beiden wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes miteinander, der Fremdenverkehr und die Landwirtschaft. Ende der siebziger Jahre hatten die Raubkatzen noch eine mächtige Fürsprecherin: Die Löwenforscherin Joy Adamson, berühmt durch Film und Fernsehen, verbrachte drei Jahre im Shaba National Reserve.
Francien vermisst Gesellschaftstänze. Manchmal würde sie gerne durch einen Saal wirbeln, einen Walzer hinlegen. Mit ihrem Freund Willem wohnt sie seit August am Fuße des Mount Shaba. Gemeinsam leiten sie Joy’s Camp, die Zeltanlage, die nach Joy Adamson benannt ist. Abgesehen vom Dreivierteltakt entbehrt Francien nichts. Francien betreut die Gäste: Morgens begrüßt sie Neuankömmlinge mit Mangosaft, mittags sorgt sie für Spiralnudeln und Zitronenbaiser, abends plaudert sie im Wickelrock am Lagerfeuer und berichtet von dem Löwen, der neulich durch das Camp schlich, bevor er sich vor einem Zelt niederließ. Vor welchem Zelt? „Nummer vier“, sagt Francien. Nummer vier schluckt.
Noch hängt der Mond am Himmel, noch nistet die Kälte in den Polstern. Es ist kurz nach fünf. Franciens Tag beginnt. Langsam schwellen die Geräusche wieder an. Es gurrt, zirpt und flattert. In der Ferne ist ein Knurren, nein, ein Röhren zu hören. Ein Löwe in der Ferne? Das erschüttert Francien nicht: Sie ist schon einmal einem Raubtier in ihrem Hausflur begegnet. Ihre Eltern wanderten Ende der siebziger Jahre von Holland nach Tansania aus. Dort wuchs Francien in der Nähe von Arusha auf. Trotz mancher Konflikte könnte sie Ostafrika nie verlassen. Einmal hat sie es versucht. Als sie siebzehn Jahre alt war, zog sie wegen des Studiums in die Niederlande. Vor lauter Heimweh bekam sie Bauchschmerzen. Trotzdem entschloss sie sich, Afrika den Rücken zu kehren, Europa zur Heimat zu machen, ihrem damaligen Freund zuliebe. Nur eine letzte Abschiedsreise wollte sie unternehmen. Sie fuhr zur Farm der Eltern, traf Freunde aus der Kindheit, darunter auch Willem. Er wusste, was sie meinte, wenn sie von ihrer Sehnsucht nach dem „einzig wahren Afrika“ sprach. Francien blieb, allerdings mit einem holländischen Pass. Für alle Fälle.
Erschienen in F.A.Z. am 10. Februar 2011
Fotos: Inka Wichmann